
Zu viel Licht? Zu viel Wasser? Hermann drehte den Blumentopf herum, doch egal aus welcher Perspektive er den Kaktus betrachtete, er sah einfach mitgenommen aus. Oben war er noch grasgrün, strotzend vor Leben. Die Stacheln setzten dem die Krone auf. Doch je weiter er nach unten sah, desto vergilbter und weicher wurde der Kaktus. Er hatte zu viel abbekommen, siechte nur dahin, faulte von innen heraus.
„Wann bist du endlich fertig? Wir wollen fahren“, rief Birgit, seine Frau durch den Flur. Das ärgerte Hermann. Er hatte klipp und klar gesagt, nicht mitzukommen, da er noch viel liegengebliebene Arbeit hatte und diese endlich erledigen wollte. Hermann stellte den Topf auf den kleinen Tisch. In Wahrheit wollte er nicht mit. Er hasste diese Einkaufsbummel, die für ihn nichts mit Gemütlichkeit zu tun hatten. Er hasste die Menschenansammlungen, hasste es, von einem Geschäft ins andere zu rennen und dann stundenlang ratlos vor irgendwelchen Regalen und Kleiderbügeln zu stehen, weil man sich nicht entscheiden konnte. Schon längst wusste er, dass seine Abneigung für jeden Ausflug nur daraus resultierte, weil er die Ehe nicht aufrechterhalten wollte. Er fühlte sich wie der Kaktus.
Hermann blickte auf, sah sein Spiegelbild in der Fensterscheibe. Und er sah auch so aus, schob er gedanklich hinterher. Außen hatte er ein paar Stacheln, doch der weiche innere Kern war längst nicht mehr gesund. Er hatte zu viel abbekommen, zu oft einfach nur geschluckt, sich zu oft zurückgenommen, zu selten auf seine Bedürfnisse geachtet und immer gedacht, das sei nur eine Phase, das meinte Birgit nicht so, das würde sich wieder ändern und so weiter. Doch stattdessen wurde es nur schlimmer. Irgendwann realisierte Hermann, die Zeit des Einspruchs und Widerspruchs war vorbei. Er hatte zu lange gewartet. So lange, dass es keinen Sinn mehr hatte, etwas zu ändern. Es war still geworden. Hermann hielt kurz inne, dann hörte er, wie die Autotür zugeschlagen wurde.
Sollte sie doch gehen. Je länger sie fort blieb, desto besser war es für ihn. Hermann holte ein Tapeziermesser. Er würde den Kaktus retten müssen. Retten war das Stichwort. Woher er diesen Tick hatte, konnte sich Hermann nicht erklären. Wohl von seiner Mutter, überlegte er, während er mit einem kurzen Schnitt die verfaulten Teile des Kaktus entfernte. Nun war nur noch gesundes Grün zu sehen. Retten, das klang so melodramatisch.
Birgit hatte es als Kind nicht leicht und dann ihre Eltern bei einem Autounfall verloren. Verloren wirkte sie auf ihn, als sie sich bei einem Spaziergang kennengelernt hatten. Sie hatte schon zu viel erlebt, war schon zu oft verletzt worden, erklärte sie, warum sie Hermanns Einladung zu einem Essen im Burger King ablehnte. Bei der Erinnerung, wie sehr er für sich geworben hatte, dass er anders war als die anderen und er ja nur mit ihr Essen wollte, weil er sie sympathisch fand, schüttelte Hermann den Kopf. Das war sein Helfersyndrom schalt er sich und fluchte laut, weil er sich gerade an den gesunden feinen Kaktusstacheln gestochen hatte.
Wenn nur der Mensch auch solche Warnungen hätte, dann hätte er anders reagiert. Das redete er sich nur ein. Sie hatten sich beim Burger zum Essen getroffen. Schön sah Birgit aus. Nicht aufgetakelt, einfach natürlich. Das mochte Hermann. Da war nichts aufgesetzt. Das war ein Irrtum, gestand er sich heute ein. Oder hatte er sich geändert? Sie hatten sich einfach unterhalten und festgestellt, dass sie so viele Gemeinsamkeiten hatten, dass es fast schon unheimlich war. Birgit hatte ein kleines Kind. Emma hieß das Mädchen mit den großen braunen Augen. Sie war schüchtern, fast scheu. Wie ein Igel, der sich zur Kugel rollte, um keiner Gefahr ausgesetzt zu sein. Er hatte sich in das kleine Mädchen verliebt. Es ging dann schnell. Viel zu schnell. Sie kannten sich kaum drei Monate und heirateten. Doch dann begann der Alltag. Er durfte sich an den Hausarbeiten beteiligen, aber nichts bestimmen. Er durfte mit Emma spielen und sich kümmern, aber nicht in die Erziehung einmischen. Reden ging nicht mehr. Er wurde in Grund und Boden diskutiert und analysiert. Dann wurde er zum Kaktus. Hermann lachte laut. Wie idiotisch, sich das bildlich vorzustellen. Jeder Streit bohrte sich in ihn wie ein Stachel hinein. Andererseits kräftigten sich mit jedem Angriff die zarten Stacheln und wurden sein Schutzschild. Doch zugleich ging er innerlich kaputt. Das war zu viel Wasser oder zu viel Licht. Vielleicht auch beides. Er hatte versucht Birgit das so zu erklären. An einem der Abende, als sie versucht hatte, die Trennung vermeiden zu können. Sein Herz blutete, wenn er Emma ansah. Emma war diejenige, die ihn so lange hatte aushalten lassen. Hermann betonte das mehrmals.
Wie oft hatte er darüber nachgedacht? Hermann schüttete Pflanzengranulat in einen Topf und steckte die kleinen gesunden Überbleibsel hinein. Sie würden wieder Wurzeln bilden. Erleichtert atmete Hermann auf. Die Trennung würde die Fäulnis nehmen. Auch er würde wieder gesund werden können. Birgit verstand seine Erklärung nicht. Sie schimpfte ihn und auf seine Kakteen, meinte, er solle schönere Pflanzen nehmen. Er solle Rosen nehmen, die hätten keine Stacheln, die hätten Dornen.
Hermann wollte weder Stacheln noch Dornen, brauchte weder den Schutz, noch den Schmerz. Er ging in den Keller und holte einen neuen Topf.
