Das Netz

Achtlos warf Erdmute ihre Tasche auf den Sessel und ließ sich resigniert daneben plumpsen. Wann würde sie es endlich schaffen, ihren Kollegen Kontra zu geben? „Nie“ pochte es in ihrem Kopf, immer wieder, als würde sie sich damit einhämmern, sich diese Frage überhaupt nicht mehr zu stellen. Freundschaft mit ihr wollten sie nicht und wehren konnte sich Erdmute nicht. Es war sinnlos. Es lag an ihrem Namen, überlegte Erdmute. Sogleich fielen ihr unangenehme Kindheitserinnerungen ein. „Erdmute, die Kröte, spielt schlecht auf der Flöte.“ Es stimmte, beim Vorspielen auf der Flöte hatte sie die Töne nicht getroffen. Es war nur eine Frage der Zeit, dass sich das herumsprach und Tim und Tom sie damit verspotten würden. Noch heute spürte Erdmute die Wut, die sie auf die beiden vorlauten Jungs aus der Nachbarklasse hatte. Leider wohnten sie im selben Ort.

Gleich nach der Schule begann Erdmute eine Ausbildung im Marketingbereich. Zum Schulalltag hatte sich nicht viel geändert. Meist saß Erdmute allein in der Cafeteria wie damals in den Pausen. Auch diese hatte Erdmute allein verbracht, denn war einmal ein spöttischer Reim über sie im Umlauf, ahmten das viele andere Schüler nach. Mädchen wie Jungen. Erdmute hatte an dem Heizkörper vor der verschlossenen Klassenzimmertür gelehnt, als drei Mädchen aus der Parallelklasse an ihr vorbeiliefen und ebenfalls über sie tuschelten. „Erdmute sieht aus wie eine Pute. Sie trägt ein blaues Kleid, denn sie ist nicht gescheit“, hatten sie dann laut lachend gerufen und waren den Schulflur entlang gerannt. „Unter Humor verstehen manche Menschen, sich über andere lustig zu machen“, hatte den Mädchen eine männliche Stimme nachgerufen. Es war Robert, der sich für Erdmute eingesetzt hatte.

Dankbar und verärgert zugleich hatte Erdmute aufgeschaut. Robert war selbst verspottet worden, weil er nicht der hübscheste Junge war. Dass gerade er sich für sie eingesetzt hatte, dafür war Erdmute dankbar und verärgert, weil den Spöttern damit recht gegeben wurde. Gleich und gleich gesellten sich gern. Hässlich und hässlich. Außenseiter und Außenseiter. Erdmute seufzte bei dieser Erinnerung. Wie immer, wenn sie in Gedanken war, kritzelte sie mit einem Stift auf einem Blatt Papier herum. Erdmute hatte sie geschrieben und einen Kreis um ihren Namen in der Mitte des Blattes gezogen. Tim, Tom und Robert schrieb sie irgendwo ein Stück entfernt ebenfalls auf das Blatt und zog Linien von ihrem Namenskreis zu den Namen ihrer Widersacher und zu ihrem rettenden Ritter. Auch wenn sie sich nie richtig eng mit Robert befreundete, so ging der Kontakt zu ihm seither nie verloren. Sie schrieben sich zwischendurch eine Nachricht oder eine Karte zum Geburtstag.

Doch egal, welchen Weg sie in ihrem Leben ging, es war immer dasselbe. Während andere Frauen viele Freundinnen und Freunde hatten, mit ihnen ausgingen und an jedem Montag von ihren schillernden Wochenenderlebnissen erzählten, blieb Erdmute still. Wer wollte mit ihr ausgehen? Sie war auch nicht der Typ für die Abenteuer, die ihre Kollegen und Vorgesetzten erlebten. Natürlich wurde sie deshalb ebenfalls verspottet. Nur war der Spott geschickt in Bitten und falschen Komplimenten versteckt. Erdmute blieb höflich und tat als hätte sie nichts bemerkt. Herbert, Esther und Agathe schrieb Erdmute die Namen ihrer ersten beruflichen Spötter auf ihr Blatt Papier und verband die Namen ebenfalls mit Linien. Die Namen der Spötter zu Erdmutes Namen in dem Kreis und die Namen Corinna und Lydia als der ihr beistehenden Menschen verband sie ebenfalls zu ihrem Namen im Kreis, aber auch zu den Namen der Spötter.

Dann schrieb Erdmute noch fett gedruckt den Namen Stefanie auf das Blatt. Diese scheinheilige Kuh hatte heute ihrem Chef Erdmutes Arbeit als ihre verkauft. Erdmute wollte gerade aufbegehren, doch ihre Stimme war zu leise und klang brüchig. Eine Verlegenheitsröte legte sich über ihre Wangen. „Passt Ihnen etwas nicht?“, brummte der Chef. „Erdmute, unsere Gute will auch etwas geben, doch ist sie zu verlegen“, reimte Stefanie und lachte lauthals über ihren dummen Witz. Ihrer beider Vorgesetzter fiel mit ein, fügte dann eine scherzhafte Rüge an. „Wenn Sie inzwischen jede Antwort reimen, sollten wir langsam Feierabend machen.“ Der Chef stand auf, Stefanie hatte die Lorbeeren eingeheimst und Erdmute war nur still geblieben.

Sie starrte auf die Linien auf ihrem Blatt. Wie Fäden sahen sie aus. Und wie wenn die Spötter nur am Faden zogen, dass sich Erdmute in Bewegung setzte, so kam sie sich auch vor. Sie lehnte sich in ihrem Sessel zurück, betrachtete die Zeichnung aus der Ferne. Es gab auch noch die anderen Linien, die zu ihren Unterstützern führten. Sie wirkten wie ein Netz. Erdmute lächelte. Sie war nicht in dem Netz der Widersacher gefangen. Sie wurde getragen. Von Menschen, die ein Netz der Sicherheit um Erdmute spannten. Nun musste sie lernen, darauf zu bauen.

Foto und Text: Petra Malbrich

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