Meine liebe Freundin, die Journalistin und Autorin Margrit Vollertsen-Diewerge, stellt uns diese Tagebuchauszüge zur Verfügung. Aufgeschrieben von einem damals zehnjährigen Mädchen auf der Flucht. Das Mädchen landete in einem Lager in Dänemark. Schlimmste Zustände herrschten. Hier der achte Teil:

Im Lager Aalborg-Ost
In der Nacht brachte uns ein Zug nach Helsingör, wo wir ein Schiff bestiegen, das uns nach Aalborg bringen sollte. Es war so herrlich, jetzt, wo keine Gefahren mehr drohten, auf dem Wasser zu sein. Schon am Vormittag erreichten wir den Hafen von Aalborg. Zu Fuß marschierten wir dem Lager zu. An den Straßen standen neugierige Dänen aller Altersstufen, und wir mussten es uns gefallen lassen, dass sie vor uns ausspuckten und über unser Elend lachten und spotteten. Aber es waren auch welche unter ihnen, die unser Schicksal erbarmte und die ihre Tränen nicht verbergen konnten. Wir wollten nicht, dass man Mitleid mit uns hatte, aber man sollte uns auch nicht verhöhnen, weil wir unschuldig an unserer traurigen Lage waren und genug darunter litten. Am Schlagbaum, dem Eingang ins Lager, nahmen uns deutsche Soldaten in Empfang und führten uns in die noch leer stehenden Baracken.
Das Lager Aalborg-Ost war ehemals ein deutscher Flugplatz gewesen. Die wenigen Soldaten, die noch nicht in die Reihen der Gefangenen eingegliedert waren, aber doch unter englischer Aufsicht standen, wurden durch Stacheldraht von uns getrennt. Sie mussten uns aber in den ersten Monaten noch verpflegen. Aalborg-Ost wurde so genannt, weil es östlich von der Stadt Aalborg lag. Das deutsche Militär hatte es sehr schön angelegt und es aufs beste gepflegt. Die Baracken, die von ihnen errichtet waren, reichten aber bald nicht mehr aus, da die Schulen und Hotels in den Städten von den Flüchtlingen geräumt werden mussten und diese in den großen Lagern untergebracht wurden. Aalborg-Ost teilte sich in drei Bezirke auf. Das war äußerst notwendig, da achtzehntausend Menschen nicht von einer Küche verpflegt werden konnten. Aber es bestand auch ein Unterschied zwischen den drei Abschnitten, besonders in den Wohnverhältnissen. Bezirk I und Bezirk II hatten feste Soldatenbaracken bis auf die, welche später gebaut wurden. Bezirk III entstand erst im Winter 1945/46. Man kann ihn als ausgesprochenes Meer von Kaninchenställen bezeichnen. Auf Ziegelsteinen oder Pfählen aufgeschlagen, dicht aneinander gedrängt, dazwischen nur Holzstege, beherbergten sie fast die Hälfte der Lagerinsassen. Solch eine Baracke bestand fast immer nur aus zwei Stuben, aber darin wohnten häufig siebzig Personen. Im Sommer war das Leben darin noch erträglich, aber sobald es ein bisschen kalt oder windig wurde, konnte man es darin nicht mehr aushalten. Der Wind pfiff durch die Ritzen, die zwischen den Brettern fast zwei Zentimeter breit waren, und verwandelte die Räume in einen Luftballon. Meiner Mutti hatten die Soldaten eine alte Offiziersbaracke zugewiesen, die sehr massiv war. Hier wohnten wir aber nur die ersten zwei Jahre, im Vergleich zu den anderen Lagerinsassen war es beinahe luxuriös. Wir teilten ein kleines, freundliches Zimmer mit einer jungen Frau mit einem Kind. In den ersten drei Monaten allerdings lebten achtzehn Personen darin. Da waren noch drei Betten übereinander. Das Heraufklettern bereitete den Kindern viel Spaß, da aber oft Unglücksfälle geschahen, wurden auf Befehl der Lagerverwaltung die Überfüllung und somit auch die „Dreietagigen“ abgeschafft. Zwei Betten übereinander blieben aber immer bestehen. Zentralheizung und Waschbecken hatten wir in der Stube. Für alle Bewohner der Baracke waren zwei Badewannen und mehrere Duschen in einem Raum vorhanden. Tausendfach beneidete man uns, denn niemand hatte es so bequem wie wir. Sonst gab es nur einen Waschraum für mehrere Baracken, die zu einem Block zusammen geschlossen waren.
In dem strengen Winter von 1947 nahm auch für uns die Bequemlichkeit ein Ende. Wir mussten unser Zimmer für Mütter mit Säuglingen räumen und in eine andere Baracke übersiedeln. Da lernten wir das Barackenleben erst richtig kennen, obwohl wir nicht einmal die schlechteste Wohnung hatten. Aber es war ein starker Frost, und es gab nur einen Eimer Torf täglich. Wenn man damit heizte, war keine Spur von Wärme zu merken. Man konnte sich eine gefährliche Erkältung zuziehen, auch wenn man nicht einen Fuß ins Freie gesetzt hatte. Wir waren gezwungen, den ganzen Tag im Bett zu bleiben. Wenn ich aus der Schule kam und meine Schularbeiten erledigt hatte, machte ich es mir in meiner „Koje“ gemütlich, soweit man davon sprechen kann, denn die eine Woll- und Zellstoffdecke, die jeder von der Verwaltung bekam, hielt wirklich nicht die Kälte ab. Gewöhnlich verbrachte ich die Nachmittage mit Lesen, denn Bücher gab es in der Bibliothek in Mengen. Jeder konnte seinem Wunsch entsprechend Bücher ausleihen. Auch ich konnte meiner Leseleidenschaft gründlich nachgehen. Aber die Leute wussten sich Holz und Torf zu besorgen. Dazu war ihnen die Nacht ein willkommener Helfer. Sie scheuten vor nichts zurück, auch wenn dann alle Lagerinsassen darunter zu leiden hatten. Ich hörte selbst einmal jemanden erzählen, dass er es auch so gemacht hatte. Als die neuen Baracken errichtet wurden, standen am Tage und auch in der Nacht dänische Posten davor, aber das schreckte die Frauen nicht ab. Eine von ihnen wurde mit der Aufgabe betraut, die Wache abzulenken, während die anderen, mit weißen Nachthemden angetan, um dem Schnee ähnlich zu sein, ein Brett nach dem anderen ins Zimmer schleppten und unter den Betten verschwinden ließen. Diese Zustände sind in einem Gedicht von einem Flüchtling geschildert worden. Es ist kein Kunstwerk, man kann keine Lautmalerei, keinen Stabreim oder Versfuß bewundern, aber es ersetzt lange Schilderungen. Darum möchte ich bitten, es nicht mit kritischen Augen zu lesen. (Der kalte Winter)
Häufig entstanden ähnliche Gedichte von Dingen, die besonders abstoßend waren wie unser Haustier, die Wanze. Sie wurde allgemein so genannt. Sie vermehrte sich sehr stark trotz der rigorosen Bekämpfung, die durchgeführt wurde. Sie ließen uns Tag und Nacht keine Ruhe und quälten viele Leute so sehr, dass sie einen Arzt in Anspruch nehmen mussten. Um den Qualen zu entgehen, richteten sich die Menschen in schönen Sommernächten im Freien eine Lagerstätte ein, so gut sie es vermochten. Die Lagerverwaltung war bis ins Kleinste geregelt. Jedem Bezirk standen ein dänischer und ein deutscher Lagerchef vor, die für jeden Lagerinsassen in ihrem Büro im Verwaltungsgebäude zu bestimmten Zeiten zu sprechen waren. Die Bezirke gliederten sich in Blocks, diese in Baracken, und die kleinste Gemeinschaft war dann die Stube. Alle diese Einrichtungen wurden von einem Ältesten geleitet. Der Stubenälteste hatte zum Beispiel das Amt, jeden Morgen zu melden, ob alle Stubenbewohner anwesend waren. Der Barackenälteste musste für Ruhe, Frieden, Ordnung und Sauberkeit sorgen. Daneben hatte er noch eine Menge anderer Aufgaben. Alle diese Ältesten wurden von den Flüchtlingen gewählt.
Drei Jahre Aalborg-Ost II
Neben den Ältesten gab es noch Ausschüsse für Wohnungsprobleme, für kulturelle Einrichtungen, für Verpflegung und Bekleidung. Der Bekleidungsausschuss war der wichtigste. Er hatte die Spenden von Schweden, Dänemark und Amerika sowie die Militärkleidung zu verteilen. Dieses Amt war kein leichtes, denn allen Leuten gerecht zu werden war unmöglich, es entstand oft Hader und Streit. Wer vier Kleider und zwei Mäntel besaß, konnte sich zu den reichsten Lagerinsassen zählen. Aber es wurde nicht so viel geliefert, dass die Not behoben werden konnte. Besonders schlecht war es um die Kinderkleidung bestellt. Die Sachen, die wir noch von zu Hause mit hatten, wurden zu klein und gingen kaputt. Aus alten Sachen musste immer wieder Neues genäht werden, was aber auch nicht lange hielt. Ich erhielt von den Spenden in den dreieinhalb Jahren ein Kleid, eine Jacke, einen Rock, ein Paar Strümpfe und ein Paar Holzschuhe. Wie sollte das ausreichen! Lederschuhe kannten wir schon gar nicht mehr. Im Winter war die große Mode, Holzschuhe zu tragen und im Sommer eine Art Sandalen, die wir uns von Männern, welche sich das Material dazu besorgen konnten, anfertigen ließen. Wir mussten dafür mit Verpflegung bezahlen. Die hätten wir selbst zwar dringend nötig gehabt, aber wir mussten sie opfern, um nicht barfuß laufen zu müssen. Allmählich entwickelte sich eine Schicht aus den Lagerinsassen, die im Allgemeinen die „oberen Zehntausend“ genannt wird. Im Lager gehörten solche dazu, die irgendeinen Posten bekleideten und solche, die mit ihnen in guter Beziehung standen. Sie unterschieden sich bald in allen äußeren Merkmalen von den anderen, denn sie waren wohlgenährt, weil sie Zusatzverpflegung empfingen. Die meisten von ihnen bewohnten ein Einzelzimmer und drängten dadurch ihre Mitmenschen immer mehr zu Haufen zusammen, was sie aber durchaus nicht störte. Auch von der Kleidersorge wurden sie befreit, indem ihnen Berufskleidung gestellt wurde, und sie wurden auch sonst bei keiner Spende vergessen. Wenn sich jemand über diese Ungerechtigkeit beschwerte, hieß es: „Wir opfern uns ja auch für die Allgemeinheit auf, was belohnt werden muss.“ Dass der Lohn im Vergleich zu den Lagerverhältnissen viel zu hoch war, wollten sie nicht anerkennen. Wie gerne hätten viele andere auch für die Allgemeinheit gearbeitet, aber ihnen fehlten die Beziehungen, um sich ein Amt sichern zu können. Wie viele untaugliche Personen hatten eine Stelle in der Verwaltung und nahmen den wirklich Geeigneten ihren Posten weg. Beschwerden bei der Lagerleitung hatten oft Erfolg und die Verwaltung wurde mit neuen Kräften besetzt, wobei sich aber immer wieder zeigte, dass alle nur in ihre eigene Tasche wirtschafteten. Ja, selbst ein deutscher Lagerchef wurde abberufen, und als ein deutschfreundlicher Däne an seine Stelle trat, änderte sich vieles.
Ein besonders wichtiger Faktor in einem Lager ist das Essen und überhaupt das Küchenwesen, worüber viel zu berichten wäre. In den ersten Monaten wurden wir von den deutschen Soldaten mit Essen versorgt, da war das Essen noch genießbar. Aber es verschlechterte sich mit einem Schlage, als die Dänen die Verpflegung übernahmen. Dreimal wöchentlich gab es Wassergrütze, einmal Erbsensuppe, zweimal Grünkohl, Mohrrüben oder eine Suppe aus Trockenkartoffeln. Das einzige Mittagsmahl zum Sattessen war das am Sonntag mit Kartoffeln und Gulasch oder einer anderen Soße und vierzig Gramm Fleisch. Die Suppen waren so widerlich, dass sie oft weg geschüttet wurden. Die Kaltverpflegung war ausreichend. Die Tagesration für eine Person sah folgendermaßen aus: Zweihundertfünfzig Gramm Schwarzbrot, einhundertfünfzig Gramm Weißbrot, zwanzig Gramm Margarine, fünfundzwanzig Gramm Käse und dieselbe Menge Wurst, welche aber statt aus Fleisch aus gefärbtem Wurstmehl und ganz wenig Fett bestand. Sie konnte nur aufgebraten gegessen werden. Der Streichkäse war mit Maden gespickt und kaum zu genießen. Die Kinder bis fünfzehn erhielten dazu noch einen halben Liter Magermilch. Am Dienstag und Freitag gab es für alle dreihundert Gramm rohe Fische und einmal wöchentlich hundert Gramm Zucker. Eine wesentliche Änderung trat erst im letzten Jahr ein, als die Zahl der Flüchtlinge durch die Rückführung nach Deutschland rapide sank. Die Brotration stieg, die Fettration für Kinder wurde um fünfzehn Gramm erhöht, und auch das Mittagessen erlebte eine Veränderung. Die Suppen fielen fast ganz fort, stattdessen erhielten wir viermal Kartoffeln und eine appetitliche Soße, aber von den vierzig Gramm Fleisch sahen wir nicht viel. Die Verpflegung war also nicht mehr so schlecht, aber sie blieb eintönig und nicht im Geringsten nahrhaft. Die Sorge um das Essen lastete also nicht auf Hausfrauen. Nur zum Kartoffelschälen und Gemüseputzen mussten die Barackenältesten die Frauen stellen.
Fortsetzung folgt.