Die Flucht Teil 4

Liebe Freunde, liebe Leser,

die erschütternde Geschichte des damals neunjährigen Mädchens geht weiter. Ihnen gelang die Flucht an die Ostsee. Doch was sie da sahen, ließ sie erstarren.

Meine liebe Freundin, die Journalistin und Autorin Margrit Vollertsen-Diewerge hat die Tagebuchaufzeichnungen aufbereitet und darf sie öffentlich machen. Das Mädchen wollte, dass dies nie in Vergessenheit gerät.

Ein Gastbeitrag von Margrit Vollertsen-Diewerge.

Ja, hier unten wurden hundert bis zweihundert Leichen von den Wellen hin- und her bewegt. Ihre Schläfen wiesen blaue Flecke auf, was darauf schließen ließ, dass sie gezwungenermaßen in den Tod gegangen waren. In den nächsten Tagen wurden die Toten in einem Loch auf dem Felde verscharrt. Wie einige Leute berichteten, wollten sie Augenzeugen gewesen sein, als diese Unglücklichen -es waren Juden – im Ostseebadrauschen in das Meer getrieben und dann erschossen worden waren. Diese Aussage wurde so oft bestätigt, dass an ihrer Richtigkeit nicht gezweifelt werden kann.

Die nächsten Wochen verliefen nicht still, aber ohne Gefahr. Mitte März begannen die Flugzeuggeschwader ihre Flüge nach Königsberg, das sich tapfer gegen die feindliche Belagerung wehrte. Dabei schonten sie nicht die Dörfer auf ihrem Wege. Tag und Nacht mussten wir bereit sein, denn dauernd brummte es in der Luft. Einmal, es war in der Mittagszeit, wollte ich Mutti abholen, die Besuche im Nachbarort machte. Weil ich sie nicht finden konnte, kehrte ich wieder um. Vor mir fuhren gemütlich zwei Soldatenwagen. Plötzlich prasselten neben mir Granaten nieder und trafen die Pferde des einen Fuhrwerks. Im ersten Augenblick verharrte ich unbeweglich auf der Stelle, dann lief ich hinter eine Scheune und entkam so den Splittern, die viele verletzten und viele für immer zum Krüppel machten.

Die Lage der deutschen Truppen wurde immer schwieriger. Die Verteidigung von Königsberg konnte nicht fortgesetzt werden. Flüchtlinge und Soldaten strömten dem Hafen von Pillau zu in der Hoffnung, von hier aus der Hölle zu entrinnen. Aber wie viele hofften vergebens, denn der Andrang war zu groß. Die Leute, die sich in den Ruinen der Hafenstadt aufhielten, litten unsagbar unter den Bombenangriffen. Viele zogen sich deshalb in das Landesinnere zurück oder blieben im Wald, der sich in der Nähe der Stadt dahin zog.

Ende März fiel die Festung von Heiligenbeil. Die dort kämpfenden Truppen konnten sich zum Teil über das Haff retten und kamen auch nach Rothenen. Aber sie sahen diese Männer – richtiger gesagt Jünglinge, denn sie waren fast alle unter zwanzig Jahre alt – aus! Schiffe standen nicht zur Verfügung, und so wagten sie die Flucht mit Schlauchbooten. Die Kleider durchnässt, hungernd, frierend, krank und ungeordnet zogen sie durch die Straßen, nach einem Obdach suchend. An den Gräben und Bäumen saßen sie, weil sie vor Schwäche nicht weiter konnten. Mutti und eine Stubengenossin bereiteten Tag für Tag bis spät in die Nacht hinein Kaffee und Stullen, so weit unser Vorrat das zuließ, und kochten Suppen. Wir Kinder brachten das dann den armen Menschen hinaus. Wie oft füllten sich die Augen mit Tränen, weil die Söhne an ihre Mütter und die Männer an ihre Frauen dachten, die vielleicht nicht mehr lebten und anderen keinen Liebesdienst erweisen konnten. Das Klassenzimmer, unser Wohnraum, war in dieser Zeit bis in die letzte Ecke gefüllt. Außer uns zwanzig Flüchtlingen fanden nachts noch bis vierzig Soldaten einen Schlafplatz.

Nach den niederschmetternden Nachrichten über die hoffnungslose Lage der deutschen Truppen und der Niederlagen in Ost und West war an einen deutschen Sieg keineswegs mehr zu denken. So beabsichtigten auch wir, auf schnellstem Wege auch Pillau zu erreichen. Vielleicht würden wir Glück haben und mit einem Schiff Ostpreußen bald verlassen können. Aber auch dieses Vorhaben wurde vereitelt, weil alle Pferde von der Wehrmacht beschlagnahmt wurden. Als sich viele Flüchtlinge weigerten, erschien ein höheres Mitglied der Partei und predigte immer dieselben Worte: „Wer sich gegen unsere Befehle auflehnt, ist ein Verräter und verhindert den Sieg unseres Volkes. Die Gäule gehören jetzt dem Staat, und ihr werdet nach dem zweifellosen Gewinnen des Krieges die Wagen gerne selbst nach Hause schieben. Der Dank für eure Aufopferung wird dann von dem gesamten deutschen Volk nicht ausbleiben.“

Wer glaubte noch an solche Worte? Niemand! Nur bittere Anklagen und Vorwürfe gegen diese Herren, die in ihrer Verzweiflung und in ihrem Wahn die unglaublichen Reden hielten, waren die Antwort darauf. Aber laut wagte niemand seine Meinung zu äußern, denn obwohl an der Niederlage nicht mehr zu zweifeln war, wurde diesen aufrichtigen Leuten sofort der Mund für immer geschlossen.

Nichts hatte sich an den traurigen Zuständen geändert, als es am dreizehnten April hieß, kinderreiche Familien werden mit der Bahn nach Pillau zum Verschiffen transportiert. Endlich sollte unser Wunsch in Erfüllung gehen, denn auch wir waren unter den Glücklichen. Aber welcher Grund konnte vorliegen, dass die Abfahrt schon am nächsten Tage erfolgen sollte? Die Frage blieb nicht lange unbeantwortet. Mutti packte für uns Kleinen unseren Tornister mit Wäsche voll, während sie und meine vierzehnjährige Schwester einen Koffer mit Kleidung trugen. Ich trug außerdem noch eine Tasche mit Geschirr.

So marschierten wir und unsere Nachbarn am Abend des 14. April nach German, dem Sammelort. Am Horizont versank glutrot die Sonne und verzauberte die Landschaft in ein Schloss im Dämmerschein. Herrlich und stimmungsvoll war dieser Abend, an dem wir beruhigt und heiter unserem Ziel entgegen wanderten. Um neun Uhr sollte der Zug einlaufen. Es wurde aber ein, zwei und drei Uhr und noch immer saßen wir bei Kerzenschein in der Bahnwärterstube. Zwei Soldaten, die uns bis hier begleitet hatten, rieten uns, von dort wegzugehen.

Aber wie hatte sich das Landschaftsbild in den wenigen Stunden verändert. Flüchtlingstrecks und  Militärautos verstopften die Straßen, wir hatten Mühe, als Fußgänger hindurch zu kommen. Plötzlich vermissten wir meinen kleinen Bruder. Dies brachte uns zur Verzweiflung. Nachbarn und alle Bekannte, die bei uns waren, beteiligten sich an der Suche. Alles war vergebens. Die Zeit drängte, denn wo gestern der Himmel von der Natur rot gefärbt war, loderte jetzt das Feuer, von Menschenhand gelegt. Dumpf und unheimlich grollte es in der Ferne. So schnell hatte sich die Front also vorwärts gewälzt!

Als wir Rothenen erreichten, schlugen schon die ersten Granaten ein. Plätze, Höfe und Wege waren von Militär überfüllt. Welch ein Jubel, als wir meinen kleinen Bruder in der Schule wiederfanden, wohin ihn einer unserer Begleiter mitgenommen hatte! Was sollte jetzt geschehen? Hier den Russen erwarten?

Nein, nein, nur fort! Noch niemals haben wir das Wort so aus vollem Herzen gesprochen wie in dieser Stunde. Die Offiziere sagten uns, wenn wir bis sieben nicht fort wären, könnten wir damit nicht mehr rechnen. Wir machten erst unsere Gepäckstücke um einiges leichter und liefen über Wiesen und Gräben zum Strand und reihten uns in die Kolonnen der Wehrmacht ein.

Über uns kreisten unablässig feindliche Flugzeuge, die, wenn sie Grünröcke in der Menge entdeckt hatten, sofort Maschinengewehrfeuer losließen und hunderte von Menschen verwundeten und töteten. Was heute bei uns den größten Spaß macht, damals aber aus Todesangst gemacht wurde, war, dass wir uns die Steilküsten herunter rollten und im Gestrüpp hängen blieben, wenn die Gefahr besonders groß war. Als wir dann unten am Strand im Sand wateten, dienten uns kleine Löcher zum Schutz.

Die Frühlingssonne stieg höher und höher und sandte ihre Strahlen auf die Flüchtlinge, das ermüdete uns sehr. Wir hatten alle unsere Winterkleider an, die uns sehr lästig wurden. Aber es gab kein Murren oder Klagen, alle traf dasselbe Los. Der Sand füllte unsere Schuhe und machte das Gehen unerträglich.

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