Teil 1

„Jetzt lass doch die blöde Krawatte einfach weg. Wenn du noch länger trödelst, kommen wir nicht vor den anderen an“, schimpfte Gesine ihren Mann. Sie schnappte sich ihre Handtasche, ihre Lederhandschuhe und den Autoschlüssel. „Die anderen müssen nicht unbedingt wissen, dass wir schon wieder 50 000 Euro brauchen. Hoffentlich gibt uns der Geizkragen das Geld“, redete sie weiter, als sie bereits im Auto unterwegs zur Geburtstagsfeier ihres Vaters waren. „Du kannst ruhig ein bisschen vom Gaspedal gehen. Wir sind so früh, dass wir sicher die ersten sind“, antwortete Joachim. Doch als Gesine in die Straße einbog, standen nicht nur die Autos ihrer Geschwister vor dem Anwesen, sondern auch ein Polizeiauto und ein Auto der Kriminalpolizei. Gesine war zunächst schockiert, lief dann aber eilig zum Haus und klingelte. Ihr Bruder Anton öffnete die Tür. „Vater ist tot“, begrüßte er seine Schwester und seinen Schwager und trat beiseite, damit die beiden ins Wohnzimmer zu den anderen gehen konnten. „Was ist passiert“, sagte Gesine statt einer Begrüßung. „Als ich heute Mittag in das Wohnzimmer ging, saß er tot in seinem Sessel. So wie er jetzt noch immer sitzt“, erklärte Johann. Johann war das älteste Kind, das noch im Haus des Vaters lebte. Verwundert schüttelte Gesine, das zweite Kind, den Kopf. „Warum bist du erst heute Mittag zu ihm gegangen“, fragte sie ungläubig. „Du weißt doch, dass er seine Medikamente auf die Minute genau einnehmen muss“, sagte Gesine. „Das weiß Johann selbst. Er hat jedoch ebenfalls ein Recht auf Privatleben. Wenn Johann wie gestern unterwegs war, hat das die Nachbarin erledigt. Sie ist Krankenschwester, wie du weißt. Du kommst hierher und fängst mit den Beschuldigungen an“, mischte sich Anton ein. Er war das dritte Kind, noch Single und lebte am nächsten von seinem Vater. Antons Wohnort war nur zwölf Kilometer entfernt und mit dem Auto in fünfzehn Minuten erreichbar. „Das hättest du eigentlich auch erledigen können. Für dich ist der Weg hierher ein Katzensprung. Warum brauchen wir dazu eine Krankenschwester? Wer weiß, was sie ihm gegeben hat oder eben nicht. Schließlich ist überall bekannt, dass Vater nicht wenig Geld hat. Wie oft hat man in Krimis schon davon gelesen“, sagte Gesine kopfschüttelnd zu Anton. „Nun mach mal halblang. Nicht jeder schmierte Vater Honig um den Mund, um Geld zu bekommen. Manche Leute helfen gerne. Einfach aus Nächstenliebe. Es ist nicht jeder wie du. Bei jedem Besuch hast du Geld für irgendein Projekt gebraucht, das dieses Mal bestimmt klappt und sich dann wieder als Reinfall entpuppte. Probiere es mit ehrlicher Arbeit“, schimpfte Anton. Das ist aller Öffentlichkeit auszusprechen, erboste Gesine. „So ehrlich wie deine Arbeit. Und Johanns Arbeit? Ihr lebt beide gut von Vaters Geld“, konterte sie und dann an Johann gewandt: „Woran ist Vater denn gestorben?“
„Genaues wissen wir noch nicht. Das wird die Obduktion ergeben, aber es sieht nach einer Überdosis an Medikamenten aus“, antwortete ein Herr, der sich als Kommissar Prosa vorstellte. Gesine nickte und reichte dem Kriminalbeamten die Hand. „Wohl an diesen Schlaftabletten“, fragte Gesine und wollte gerade eine Tablettenschachtel greifen, die am Tisch lag. „Bitte nichts anfassen. Es handelt sich hier um Beweisstücke“, mahnte Prosa. „Johann war gestern Nacht aus. Wo waren Sie genau“, fragte Kommissar Prosa. „Ich war mit einem ehemaligen Studienkollegen im Kino und anschließend in einem Schnellimbissrestaurant, um in alten Erinnerungen zu schwelgen“, antwortete Johann. Kommissar Prosa nickte. „Ich nehme an, ihr Freund kann das bezeugen. Wie heißt er denn“, fragte Prosa und schrieb mit seinem Stift den Namen Gregor Schmitt in sein Notizbuch. „So blöd das für mich jetzt auch ist, aber ich war zu Hause und habe es mir mit einer Flasche Rotwein bei einem Klassikkonzert im Radio gemütlich gemacht. Ich bin in Vaters Firma für das Marketing zuständig und wir hatten in den vergangenen Wochen ziemlich viel um die Ohren, um die neue Kollektion vorzubereiten. Mein Vater stellt Ferngläser, Mikroskope und solche Geräte her. Präzision in Glas, kurz ausgedrückt“, erklärte Anton. „Sie haben also keine Zeugen“, meinte Kommissar Prosa. „Leider nein“, gestand Anton. „Aber ich bin der einzige, der wirklich arbeitet. Mein Interesse am Tod des alten Herrn ist somit unbegründet“, erklärte Anton.
Kommissar Prosa sah nun Gesine an. „Und Sie? Was haben Sie gestern Abend gemacht?“ Gesine schüttelte den Kopf. „Ich bin früh zu Bett gegangen, weil ich Kopfschmerzen hatte. Das ist immer so, wenn ich viel Stress empfinde. Und heute sollte ein langer, anstrengender Tag werden. Schließlich wollten wir seinen Geburtstag feiern“, erklärte Gesine und schluchzte. „Können Sie das bezeugen“, fragte der Kommissar Gesines Ehemann Joachim. Dieser nickte. „Allerdings kann meine Frau nicht bezeugen, dass ich zu Hause war. Sie schlief fest. Nur die bereits fertige Buchhaltung ist mein Zeuge, dass ich gestern Abend brav zu Hause saß und liegengebliebene Arbeit aufarbeitete“, sagte Joachim.
Kommissar Prosa bedankte sich und beendete die Befragung zunächst. Doch eigentlich wusste er bereits, wer der Täter war. Kommissar Prosa setzte sich in den Sessel und bat nun zu den Einzelgesprächen.
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