
Einfach verlockend sahen die dunkelroten Äpfel aus, mehr noch, wenn ihre Farbe durch die Sonnenstrahlen leuchtete. Ein Apfel schöner als der andere, dachte Julia, als sie das reife Obst an den Ästen begutachtete, pflückte und in einen Korb legte. Ein ähnliches Bild zeigte sich im ganzen Garten. Auch am anderen Baum hingen große Äpfel, zweifarbig, doch genauso verlockend und saftig wie die Birnen. Immer im Herbst, wenn sie die Früchte ernten durfte, fiel ihr Theodor Fontanes Gedicht über den Herrn von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland ein. Den Kindern, die er so ins Herz geschlossen hatte, bereitete er eine einfache kleine Freude, indem er ihnen eine Birne schenkte. Eine idyllische Vorstellung, dachte Julia. Wie gerne hätte sie ihr Obst und Gemüse auch verschenkt. Doch mit einem Apfel oder einer Birne konnte man keinem Kind mehr eine Freude bereiten. Sie würde ausgelacht werden. Essen gab es im Überfluss, zu Schleuderpreisen im Supermarkt. Gespritzt, unzählige Kilometer weit hergefahren und geflogen, um dann irgendwann doch in der Biotonne zu landen. Oder gab es doch Kinder, die sich freuen würden, sich aber nichts nehmen und sagen trauen? Auch wenn es modern war, sich für alles mögliche zu outen, zur Armut würde sich niemand bekennen. Dabei standen immer mehr Leute bei den Tafeln an. Bereits Kinder hatten Mangelversorgung, weil ihnen wichtige Vitamine fehlten. Es wäre so einfach, dachte Julia, während sie die mit Äpfeln gefüllten Körbe ins Haus trug. Die Äpfel von den ersten Korb schälte sie und bereitete Apfelmus daraus. Das Gedicht fiel ihr wieder ein. Es war genial, wie der Herr von Ribbeck dann vorsorgte, dass die Kinder immer Birnen haben konnten. Er ließ sich eine Birne mit ins Grab legen. Sogar da konnte er noch viel Gutes tun. Vom Fenster aus starrte Julia auf die nun leeren Apfelbäume. Ein Apfelbaum, nicht nur hübsch anzuschauen. Er stand für viel mehr. Für das gesamte Leben, für die gesamte Schöpfung. Der Baum muss wachsen, viele Jahre erlebt er Frühling, Sommer, Herbst und den Winter. Wie ein Mensch, der mit jedem Lebensjahr reift und stärker wird. Jedes Jahr kommt Gutes aus dem Baum hervor. Zunächst die Knospen, die Bienen anlocken und diesen Nahrung geben, während der Mensch sich an der Schönheit der Natur und dem reibungslosen Zusammenspiel erfreuen darf. Die Blüten werden bestäubt, das Obst für den Menschen und die Tiere kann reifen. Auf den Ästen und in der Baumkrone finden Vögel einen Ruheplatz. Auch der Baum übersteht Stürme des Lebens. Wie der Mensch. Und doch freut sich heute niemand mehr über diese Einmaligkeit und Vielfältigkeit zugleich, die in einem einzigen Apfel steckt. Ein Event musste heutzutage alles sein. Julia wusch sich die Hände, füllte das Apfelmus in Gläser ab und stellte sie ins Regal im Vorratsraum. Dann holte sie Seidenpapier, wickelte jeden Apfel in ein Stück Seidenpapier. Das half eigentlich, den Apfel länger zu lagern, war zugleich schmucke Verpackung. Wie ein Geschenk sah der Apfel aus, fand Julia, als sie den im farbigen Seidenpapier gewickelten Apfel betrachtete. Schließlich befestigte sie eine dünne Schnur an dem Seidenpapier und ging mit einem derart gefüllten Korb Äpfel zu den Bäumen, die am Straßenrand wuchsen. Dort würden viele Menschen vorbei laufen. Manche Autofahrer würden vielleicht auch anhalten, wenn sie die bunten Kugeln am Baum baumeln sahen. An den Baumstamm lehnte sie das vorgefertigte Schild: „Hier hängen Wunder. Gratis.“ Julia lief ein paar Meter weiter und beobachtete, wie die Leute reagieren würden. Tatsächlich lockte der farbige Wunderbaum die Menschen an. Erwachsene holten sich eines der Wunder vom Baum und auch die Kinder freuten sich daran, wickelten den Apfel aus und bissen herzhaft hinein. Innerhalb kurzer Zeit war der Baum leer, die Äpfel gegessen. „Warum ist das ein Wunder“, fragte ein kleiner Junge seine Eltern. „Vielleicht weil die Äpfel gerade heute, an Erntedank hier hängen“, meinte die Mutter. „Vielleicht weil an einer Linde normalerweise keine Äpfel wachsen“, antwortete der Vater. Der Junge überlegte und fasste zusammen: „Dann ist es viel mehr als ein Apfel.“
