Was ist Glück?

Es dauerte nie lange, bis sich Victoria nach dem Aufstehen wieder ermattet und ausgelaugt fühlte. Mit der ersten Tasse Kaffee und einem Blick durch die Wohnung, war die bleierne lähmende Müdigkeit wieder da. Der Fernseher lief, wie immer. Vom Vorabend standen noch die Gläser auf dem Tisch. Das eine oder andere hatte Ränder auf dem Holztisch hinterlassen. Auf dem Sofa stapelte sich die Bügelwäsche und ebenso unmotiviert sah der Garten aus, dachte Viktoria bei einem Blick aus dem Fenster. Genau dort lehnte ihr Saxophon. Fast 2000 Euro hatte sie dafür bezahlt und dafür mehrere Monate eisern gespart. Richtig glücklich war sie, als sie das Instrument endlich als ihr eigenes aus dem Musikgeschäft nach Hause tragen durfte. Warum eigentlich, fragte sich Viktoria jetzt. Sie konnte überhaupt nicht spielen und ein Saxophon war noch nie ihr Lieblingsinstrument gewesen. Doch ihr Cousin spielte Saxophon. Wenn er spielte, hatte er ein glückliches Strahlen in den Augen. Ein Strahlen, das noch lange nachwirkte. Das war das Glück und es war das, wonach Viktoria ihr Leben lang vergeblich strebte. Aus dem Fenster geworfenes Geld waren auch die Bücher, die sie sich kaufte. „Das musst du dir einfach kaufen. Die ganzen Klassiker sind reduziert, wenn du sie im Abo kaufst“, schwärmte ihre Freundin Dunja. Und dann begann sie zu erzählen. Von den starken Persönlichkeiten, die etwas aus ihrem Leben machten. Den Frauen, die sich trauten, ihren Weg zu gehen, auch wenn sie sich dafür der Etikette widersetzten und das Glück fanden. Aber sie erzählte auch von den Menschen, die bescheiden geblieben sind, weil es das lohnendere Ziel war, als sich zu verbiegen und dem Geld hinterher zu jagen. Viktoria jedoch konnte den Büchern nichts abgewinnen. Lustlos blätterte sie Seite für Seite um. Die schillernde Welt, von der Dunja schwärmte, wollte sich Viktoria nicht öffnen. Die vielen noch ungelesenen Seiten, bewirkten, dass sich die bleierne Müdigkeit wieder einstellte. Sie stellte das Buch ins Regal zurück, die anderen ließ sie unbeachtet. Dunja holte sich noch einen Kaffee, schlich zum Sofa, schob die Wäsche beiseite und setzte sich. Noch bevor der Tag richtig begonnen hatte, war er für Viktoria zu Ende. Sie fühlte sich wie gelähmt. Eine tiefe Traurigkeit überkam sie. Sie konnte nicht dagegen an. Jeder war glücklich und zufrieden. Nur für sie schien es kein Glück zu geben. Es klingelte an der Haustür. Viktoria schaute auf die Uhr. Zehn Uhr. Es musst die junge Studentin sein, die sich auf ihren Aushang gemeldet hatte. Ob die Gartenarbeit für eine Frau die richtige Arbeit war? Viktoria bezweifelte es, doch da sich niemand anders gemeldet hatte und der Garten endlich für den Herbst vorbereitet werden musste, nahm sie die Studentin an. Vanessa hieß sie und lächelte freundlich, als Viktoria mit einer verbissenen Miene öffnete. „Ihr Garten ist ein Traum“, begrüßte Vanessa ihre Auftraggeberin. „Ich beneide Sie um das Glück, das Sie hatten, ihre Kindheit in diesem Garten verbringen zu dürfen.“ Viktoria zog erstaunt die Augenbrauen hoch. „Ja, er war wirklich ideal, beim Verstecken“, sagte Viktoria sachlich. „Ich nehme an, die Sträucher brauchen einen Rückschnitt“, sagte Vanessa eifrig. „Das ist richtig. Haben Sie Erfahrung mit der Gartenarbeit und Gestaltung?“, fragte Viktoria. „Klar“, meinte Vanessa und lief bereits in den Garten zum ersten Strauch, um diesen fachmännisch zu kürzen. Viktoria blieb eine Sekunde unschlüssig stehen. „Wie vereinbart bekommen Sie ein warmes Mittagessen“, sagte Viktoria und ging wieder ins Haus. Wenn die junge Frau dann ins Haus käme, sollte sie ein bisschen Ordnung schaffen, dachte Viktoria, steckte das Bügeleisen ein, räumte das Geschirr weg, während sie darauf wartete, dass das Bügeleisen gebrauchsfertig war. Während Viktoria Blusen und Hosen bügelte, schaute sie vom Fenster aus immer wieder zu der jungen Frau. Sie schien Freude an der Arbeit zu haben, dachte Viktoria. Vanessa schnitt die Äste, zerkleinerte diese, jätete Unkraut, schnitt Blumen zurück, die noch vor dem Winter geschnitten gehörten. Inzwischen war Viktoria mit der Hausarbeit fertig und Vanessa bei dem großen Apfelbaum angelangt. „Da läuft einem das Wasser im Mund zusammen“, schwärmte Vanessa und streckte ihrer Auftraggeberin einen roten Apfel entgegen. „Sie sind alle reif. Soll ich sie ernten? Es wäre schade, wenn sie einfach zu Boden fallen und faulen“, meinte Vanessa. Viktoria nahm den Apfel in die Hand. Schon kamen Erinnerungen, wie sie damals als ihre Eltern noch lebten, Apfelmus vorbereiteten und das Obst haltbar machten, sodass es auch im Winter Kompott gab. „Wir könnten ein bisschen Reisig in der Ecke dort anhäufen. Vielleicht zieht ein Igel ein“, schlug Viktoria vor. Sofort begann Vanessa die dünnen Ästchen in den hinteren Garten unter einem Strauch zu stapeln. Viktoria half und mit jedem Handgriff, den sie erledigte, um den Tieren ein Winterquartier zu schaffen und mit jedem Handgriff, der aus ihrem unübersichtlichen Grundstück wieder einen Garten werden ließ, wurde Viktoria lebensfreudiger. „Ich werde uns einen Apfelkuchen backen“, meinte Viktoria, nahm drei von den rotbackigen Äpfeln und verschwand in der Küche. Während sie den Kuchenteig vorbereitete und die Äpfel schälte, summte Viktoria ein Lied. So leicht und unbeschwert hatte sie sich schon lange nicht mehr gefühlt. Als Vanessa die Arbeitsgeräte wieder aufgeräumt hatte und ins Haus kam, servierte Viktoria Kaffee und Kuchen. „Ich würde nächstes Wochenende wieder kommen, damit wir die andere Gartenhälfte bearbeiten“, schlug Vanessa vor. Viktoria nickte lächelnd, als sie sich von der jungen Studentin verabschiedete. Singend ging Viktoria ins Haus zurück, räumte den Tisch ab, begann gleich mit dem Abwasch und setzte sich dann zufrieden auf das aufgeräumte Sofa in ihrem sauber geputzten Haus. „Was ist heute anders? Ich bin glücklich“, sagte Viktoria zu sich selbst. Dass sie dieses Gefühl erleben durfte, daran hatte sie lange nicht mehr geglaubt. Fast als hätte sie Angst, dass dieses Gefühl wieder verschwand, tat Viktoria zunächst nichts. Dann fiel ihr Blick auf den Beistelltisch, auf dem ihr Poesiealbum lag. Erst vorgestern hatte sie darin geblättert, in der Hoffnung, damit glückliche Erinnerungen zu verbinden. Viktoria schlug es auf. Ihr Großvater hatte sich in dem Album verewigt. „Du strebst nach Glück, o Menschenkind, o glaube du mitnichten, dass es erfüllte Wünsche sind. Es sind erfüllte Pflichten.“

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