„Der Herzenswunsch“

Eigentlich war es nur eine Geschäftsidee. Ein Gag. Was der Wunschbriefkasten ans Christkind für die Kinder war, sollte dieser Briefkasten für Erwachsene sein. Würde dann das gewünschte Produkt im Angebot sein, sollte der Kunde eine Nachricht erhalten. „Erfüllen Sie sich heute Ihren Herzenswunsch und kaufen Sie den Kaffeeautomaten, den Flachbildfernseher, das Navi und was es alles gab. Heute im Sonderangebot für nur …. Und dann würde auf der Wünscheantwort der vergünstigte Preis stehen.

Immer wenn Veronika durch ihren Laden lief, sah sie Erwachsene die Wunschkarte ausfüllen und in den Briefkasten werfen. Jeden Abend wurde der Briefkasten geleert und die Wunschkarten nach Produktwahl gestapelt. So war es gedacht. Einen jungen Studenten, der sich ein paar Euro verdienen wollte, hatte sie dafür eingestellt. Es war schon eine halbe Stunde nach Ladenschluss, als Veronika ins Büro ging, wo Leander mit dem Sortieren der Karten beschäftigt war. Doch anstatt dass sich Stapel mit den Kategorien Haushaltsgeräte, Werkzeuge, Gartenbereich und so weiter gebildet hatten, bedeckten die Karten fast den ganzen Tisch.

„Nanu? Ist kein Produkt dabei, das sich viele wünschen?“, fragte Veronika und schloss die Tür. Leander schüttelte den Kopf. „Es ist kein einziges Produkt dabei“, meinte er verwundert. Veronika hob die Karte auf, die gleich an der Tischkante lag. „Ich wünsche mir, dass meine Freundin zu mir zurückkehrt“, las sie vor und hob weitere Karten auf. Auf allen Karten waren nur Wünsche im zwischenmenschlichen Bereich notiert worden. „Glauben die Leute, das hier ist ein Kummerkasten“, sagte Veronika mehr zu sich selbst und nahm die nächste Karte. „Ich wünsche mir einen Freund, der zuhört und mich nicht nur anruft, wenn er eine Hilfskraft zum Arbeiten braucht“, las Veronika vor. Ähnliches stand auch auf den anderen Wunschkarten. „Lege ein Fach mit der Rubrik Sonstiges an“, meinte Veronika. Nachdenklich ging sie nach Hause.

Der nächste Tag war wie gewohnt. Die Menschen, die bei Veronika einkauften, unterhielten sich, lachten, waren verärgert, einfach ganz normal wie bei den anderen Einkäufen auch. Von der Abteilung Haushaltsgeräte aus konnte sie den Tisch, auf dem der Wunschkasten aufgestellt war, einsehen. Nicht alle, aber viele Kunden blieben dort stehen, nahmen eine Karte vom Stapel und notierten ihren Wunsch, bevor sie mit ihren Einkäufen zur Kasse schoben. Als Veronika nach Geschäftsschluss in das Büro ging, wo Leander die Karten sortierte, bot sich ihr dasselbe Bild wie am Vorabend. „Sind wieder keine Produktwünsche dabei“, begrüßte Veronika ihren Studenten. Leander schüttelte den Kopf. „Überall nur Wünsche im zwischenmenschlichen Bereich“, meinte er, Veronikas Worte vom Vorabend wiederholend. „Nur diese Karte ist von einem Jungen geschrieben. Zwölf Jahre alt. Ich weiß, dass nur Erwachsene ihre Wünsche hier aufschreiben dürfen. Aber mein Wunsch ist für Erwachsene. Ich wünsche meinen Großeltern ein Herz. Ein Herz, damit sie mit Liebe sehen, damit sie auch ihre Fehler sehen und damit sie nicht mit Trübsal in die Zukunft schauen.“ Veronika war überrascht von diesen Worten eines Zwölfjährigen. Was mochte da schief gelaufen sein. Doch was kümmerte es sie? Es gab in allen Familien ähnliche Dramen. Das zeigten die vielen Karten, auf denen selbst nach einer Woche Wunschkasten noch kein einziger Produktwunsch aufgeschrieben worden war.

Leander begann unterdessen die Karten zu stapeln. „Welche Kriterien liegen deiner Sortierung zugrunde?“, fragte Veronika. „Schlimmer Fall, großes Drama oder unwichtigeres Beziehungsproblem?“ Leander schüttelte den Kopf. „Deine Kreativität als Kunststudent in allen Ehren, aber Produkte, um diese Wünsche zu erfüllen, verkaufen wir nicht“, meinte Veronika. „Es ist nur ein Produkt, das wir brauchen, um all diese Wünsche zu erfüllen“, meinte Leander. „Warte ab. Morgen bringe ich dieses Produkt mit“, sagte Leander, räumte den Schreibtisch auf und ließ eine erstaunte Chefin zurück.

Als Veronika am anderen Abend nach Geschäftsschluss in das Büro ging, stapelten sich bereits Antwortschreiben auf Leanders Schreibtisch. „Ist das geheimnisvolle Wunschprodukt im Kuvert?“, wollte Veronika wissen. Leander nickte, während er eine weitere Wunschkarte mit einer Antwort beschriftete. Es war die Karte an den Jungen. „Lieber Florian, hier ist das Herz, das du dir für deine Großeltern wünscht“, schrieb Leander auf die Karte und steckte ein kunstvoll gestaltetes Papierherzchen in den Umschlag. Leander lachte, als er Veronikas fragenden Blick sah.

„Jeder kann sich seine Wünsche erfüllen. Aber wir erfüllen den Herzenswunsch. Denn jeder sucht ein Herz. Ein Herz als herzliches Dankeschön, ein Herz für eine herzliche Umarmung, ein Herz für Lebensfreude, ein Herz, um ein Lächeln zu schenken. Ein Herz, um herzlich zu sein“, erklärte Leander. „Wir schenken deshalb jedem Wünschenden ein Herz, stellvertretend für die Menschen, die es tun sollten oder einfach, um es weiter zu schenken“, erklärte Leander. Veronika lächelte und hielt eins der schön gestalteten Papierherzchen in der Hand. Was war ihr Herzenswunsch?

Photo by Isaac Quesada on Unsplash

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