„Die Unruhebank“

Ob der Arzt wirklich die Wahrheit gesagt hatte? Immer mehr Zweifel regten sich in Edgar. Wegen massiver Schlafstörungen, Herzrasen, Bluthochdruck und Kopfschmerzen war er zu ihm in die Sprechstunde gegangen. „Sie sind einfach nur überarbeitet. Suchen Sie sich ein ruhiges Plätzchen im Garten, stellen einen Stuhl auf und genießen die Natur. Tun Sie nichts, denken Sie nichts. Sitzen Sie einfach da und schöpfen Kraft aus der Ruhe“, meinte der Arzt. So ein Unsinn, dachte Edgar. Wann hatten die Probleme angefangen? Da war keine Überarbeitung. Das waren die ruhigen Wochen. Es konnte sich also nur um eine Fehldiagnose handeln. Oder er verheimlichte etwas? Warum sollte er nichts tun? Wenn es so einfach wäre. Vielleicht hatte er nur noch ein paar Monate zu leben und der Arzt wollte ihm das nicht mitteilen. Möglicherweise war es besser so. Doch wenn er wirklich krank wäre und das nicht wusste, könnte er auch keine Vorbereitungen treffen. Was glaubte der Arzt, wer er ist? Wie kam er dazu, ihm eine derart schwerwiegende Diagnose zu verheimlichen? Edgar war inzwischen am Parkplatz des Baumarktes angekommen und zehn Minuten später mit einer Gartenbank wieder im Auto. Noch vor dem Abendessen baute er die Bank zusammen und nahm sich eisern vor, den Ratschlag des Mediziners zu befolgen. Dann würde sich zeigen, wer recht hat. Aber wenn sich die Beschwerden nicht besserten… Na, dem würde er etwas erzählen. Es war ein warmer Sommerabend an diesem Freitag. Das Wochenende konnte beginnen. Dort oben, bei den Beerensträuchern suchte Edgar als schönsten Platz im Garten aus. Von dort aus konnte er alles überblicken, die Seele baumeln lassen und die Natur genießen. Doch kaum hatte er sich auf die Bank gesetzt, summte es um ihn herum. Ein paar Bienen flogen in die Kelche der Glockenblumen und naschten den Blütenstaub. Von der anderen Seite näherten sich ein paar Vögel, die versuchten, ein paar rote Beeren zu erhaschen. Richtige Kletterkünstler waren sie. „Schaut dass ihr weiterfliegt. Was fällt euch ein. Diese Beeren kann ich nicht mehr verwenden. Nein, daraus machen wir keinen Gelee. Wer weiß, welche Bakterien an den Beeren hängen“, fluchte Edgar, stand auf, um das ganze Getier zu verscheuchen. Kaum dass er sich wieder hingesetzt hatte, rief der Nachbar über den Zaun, ob Edgar auch einmal die Natur genieße. Das komme selten vor, meinte der Nachbar. Seit wann ist das Haus wieder bewohnt, überlegte Edgar, der wenig begeistert von der erneuten Störung war und das auch zeigte. Ein Schlagabtausch folgte. Welche Laus ihm über die Leber gelaufen sei, fragte der neue Nachbar. Edgar atmete tief durch, um nicht die Beherrschung zu verlieren. Doch nicht einmal das konnte er bis zum Ende zelebrieren, weil seine Frau von der Haustüre aus nach ihm rief. Wo er sich versteckt habe, ob es ihm gut gehe und ob er wohl vergessen habe, dass sie heute ihr Grillfest feiern würden. Wie von einer Tarantel gestochen lief Edgar in großen Schritten auf seine Frau zu. „Es ist mir egal, ob wir grillen oder nicht. Deine Probleme wenn ich hätte“, rief Edgar, holte seinen Gartenhut und ein Gartenstuhlkissen und verließ das Grundstück. „Ich gehe in den Wald, damit ich endlich meine Ruhe habe. Wie soll man hier richtig ausspannen können, wenn es einem keine fünf Minuten vergönnt ist, einfach einmal nichts zu tun“, rief Edgar über den Zaun und marschierte die wenigen Meter zum Waldrand. Welch herrliche Ruhe, dachte Edgar, atmete die frische Waldesluft tief ein und begeisterte sich über die Stille, bis er eine Bank gefunden hatte. Erleichtert ließ er sich auf die Bank sinken, lehnte sich entspannt zurück und schloss die Augen, um die ärztliche Anweisung zu befolgen, einfach nichts zu tun. Doch was, wenn diese Behandlung nicht anschlug, weil es eben nicht Erschöpfung war? Welchen Einfluss sollte „nichts tun“ auf sein Herz und den Blutdruck haben? Dass dieser im Ruhezustand niedriger ist, war keine neue wissenschaftliche Erkenntnis. Wie dumm war er, sich diesen Bären aufbinden zu lassen? Schon da hätte ihm klar sein müssen, dass der Arzt etwas verheimlichte. Also doch eine schwere Krankheit, überlegte Edgar und saß mit einem Ruck kerzengerade auf der Bank, um mit der rechten Hand am linken Handgelenk den Puls zu zählen. Dieser raste nur so davon. Ruhig bleiben, damit der Puls wieder normal wird, mahnte sich Edgar. Er horchte weiter in sich hinein. Natürlich! Wie konnte er überhört haben, dass sein Herz ebenfalls im Galopp rannte? Herzkreislauferkrankungen waren eine der häufigsten Todesursachen, glaubte sich Edgar zu erinnern, das irgendwo gelesen zu haben. Er zählte erneut seinen Puls. War da nicht ein unregelmäßiger Schlag? Ein Herzstolpern? Er neigte seinen Kopf leicht zur Seite, um den Herzschlag besser spüren zu können. Ein Bussard flog hoch oben über die Baumwipfel, seinen typischen Schrei ausstoßend. Edgar hob drohend die Faust in den Himmel, an den Raubvogel adressiert. Doch dieser ließ sich davon nicht beeindrucken. Überall raschelte es in den Ästen. Die kleineren Vögel suchten Zuflucht. „Verflucht nochmal. Nicht einmal im Wald hat man Ruhe. Wie soll man da gesund werden“, rief Edgar zwischen die Bäume hindurch. Auf seiner Stirn hatte sich Schweiß gebildet. Natürlich. Obwohl er gerade gehen wollte, setzte er sich wieder auf die Bank. Seine Beine zitterten. Schweißausbrüche, kalter Schweiß, war das nicht ein eindeutiges Symptom? Edgar zog das Handy aus der Hosentasche und googelte. Natürlich. Da stand es Schwarz auf Weiß. Bei Bluthochdruck ist Ruhe genau falsch. Er brauchte sanfte Bewegung. Ob er noch nach Hause kam? So zittrig wie er bereits war? Edgar richtete das Handy so ein, dass er nur auf Notfall drücken musste, sollte er nun vor Schwäche umfallen. Wie er die dreihundert Meter nach Hause kam, wusste Edgar nicht. „Wir werden uns einen anderen Arzt suchen“, schimpfte er als Begrüßung. Seine Frau schüttelte nur den Kopf, während sie die Salate auf den bereits gedeckten Tisch stellte. Keine zehn Minuten später waren die Gäste da und Edgar sorgte mit seinen Geschichten aus der Arbeit für heitere Stunden. Als die Freunde wieder weg waren, lehnte sich seine Frau entspannt auf der Bank zurück. Auch Edgar lehnte sich zurück, blickte auf die Sterne, die inzwischen den Himmel besetzten. „So entspannend und ruhig wie heute Abend war es schon lange nicht mehr“, sagte Edgar und zählte heimlich den Pulsschlag an seiner linken Hand. Alles im Normalbereich.

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