Klassentreffen

Sie hatten ihre Adresse doch gefunden. Agathe drehte die Karten herum. Da stand groß und fett: EINLADUNG zum Klassentreffen. Unterschrieben war die Karte natürlich von Alexander und Beatrix. Der eine ein eingebildeter Schnösel aus reichem Elternhaus. Schon in der Schule ist er herumgelaufen wie ein Schüler an der Oxford Universität und Beatrix, mit Hemd, Pullunder, einem Seitenscheitel und auf Hochglanz polierten Schuhen. Bei Beatrix fiel ihr immer nur Kaufmannstochter Nelly aus der „kleinen Farm“ ein, sobald Beatrix auch nur die Augen in ihre Richtung drehte. Beatrix sah nicht nur aus wie diese Nelly, sondern verhielt sich auch so. Abwertend, ausgrenzend. „Schaut mal auf Agathe, an ihrem Shirt hängen Salate“ oder „Hier läuft Agathe und macht gleich ein paar Spagate“. Meist hatte Alexander dann den Fuß ausgestreckt, wenn sie an seinem Tisch vorbeilaufen musste. Prompt stolperte sie, weil sie so sehr damit beschäftigt war, den Kopf oben zu halten. Niemand sollte auf die Idee kommen, dass sie diese Hänseleien ärgerten. Die beiden waren schon immer ein Herz und eine Seele, wohl weil sie beide ähnlich tickten und das Rampenlicht liebten. Auch wenn sie noch so viel Unsinn erzählten, sie hielten sich selbst für unschlagbar gut und einmalig originell. Natürlich war Alexander in die elterliche Firma eingestiegen. Verkaufte Autos. Schnittige Modelle, in denen er durch die Gegend fuhr und Blicke auf sich zog. Ganz nach seinem Geschmack, dachte Agathe, während sie ein weiteres Glas mit dem Quittengelee füllte. Und Beatrix? Auch sie setzte den Wert des Lebens, die Zufriedenheit mit Luxus und Geld gleich. Agathe hielt ihre klebrigen Hände unter das fließende Wasser im Spülbecken. In Saus und Braus, in großem Luxus lebte sie nicht. Sie hatte ein kleines Häuschen am Ortsrand, mit Blick auf die Wälder. Nebenan hatte sie einen kleinen Anbau, in dem sie ihre Goldschmiede betrieb und Schmuck herstellte. Jedes Teil ein Unikat. Doch die meisten Menschen kauften lieber von der Stange, auch wenn das teurer war, als sich von ihr ein individuelles und originelles Teil anfertigen zu lassen. Es war der Name, der zählte. Der Name von großen Schmuckmarken. Am Schmuckstück war das nicht zu erkennen, aber man konnte den Namen des Juweliers nennen. Damit schmückten sich Menschen wie Beatrix oder Alexander. „Was will Agathe Spinate einmal werden“, hatte Alexander vor Jahren lautstark gefragt. Nicht aus ehrlichem Interesse, sondern um sich über ihre Antwort lautstark belustigen zu können. Obwohl Agathe das wusste, antwortete sie ihm wahrheitsgetreu. „Ich werde Goldschmiedin, mir ein kleines Häuschen im Grünen kaufen und dort den Schmuck für bedeutende Leute entwerfen und fertigen“, antwortete Agathe damals. Prompt prusteten Beatrix und Alexander los. „Welche bedeutenden Leute sollten sich zu dir verirren“, lachte Beatrix und Alexander posaunte: „Agathe Sonate will bedeutend werden und sich künftig nur noch mit der High Society treffen!“ Obwohl sie damals wütend auf die beiden wurde, blieb Agathe zunächst regungslos. „Weil du nicht weißt, was bedeutend ist“, verteidigte sie sich leise. Die Tage waren gezählt, dann musste sie die beiden nicht mehr sehen.

KLASSENTREFFEN las Agathe erneut. Ihr erster Impuls, an dem Treffen nicht teilzunehmen, war der Neugierde gewichen. Doch, sie würde teilnehmen, würde nächste Woche pünktlich in dem vorgeschlagenen Hotel erscheinen. Selbst wenn sie garantiert ein „du hast dich nicht verändert“ hören würde. Musste man sich denn verändern? Zählte man nur dann etwas im Leben? Agathe saß auf einem Sessel in der Eingangshalle und beobachtete die früheren Klassenkameraden, die nach und nach eintrafen. Alexander war zu hören, bevor ihn jemand sehen konnte. Mit einem flotten Spruch auf den Lippen ging er auf die anderen zu, begrüßte jeden in überschwänglich guter Laune und begann sofort von seinem Erfolg und dem damit verbundenen Stress zu reden. Beatrix hatte noch immer den abwertenden Blick, mit dem sie die Halle begutachtete. Natürlich mit dem Vorhaben, gleich wieder Kritik zu üben. In Florida war das Hotel besser. In Australien hatte sie ein ganz besonderes Erlebnis, in Frankreich war die Küche unübertrefflich und von dem Service, den die Hotels in den skandinavischen Ländern boten, war sie angenehm überrascht. Agathe lächelte heimlich. Von ihrem Platz aus konnte sie alles hören und beobachten. Die beiden hatten sich offensichtlich nicht verändert. Sie selbst schien keine Aufmerksamkeit erregt zu haben. „Agathe, die Granate, ließ sich nie verbiegen, darum ist sie jetzt zufrieden“, meinte eine männliche Stimme neben ihr. Dieses Mal nicht provozierend gemeint, sondern freundschaftlich, erkannte Agathe und wusste auch ohne aufzuschauen, dass es Alexander war. „Du bist unzufrieden?“, fragte Agathe. „Das weißt du doch“, meinte Alexander. „Zwei Mal geschieden und immer noch auf der Jagd nach Erfolg und dem großen Glück“, fügte er salopp an, mit ein wenig Bedauern in der Stimme. „Du hast dein Ziel erreicht und fertigst Schmuck für bedeutende Leute?“, fragte er. Agathe nickte. „Ich weiß jetzt, wer bedeutende Leute sind. Das habe ich auf die harte Tour lernen müssen“, meine Alexander. „Ich möchte, dass du mir einen Schmuck für eine ganz bedeutende Person fertigst“, bat Alexander. „Ich möchte ein Halskettchen mit einem Marienkäfer als Anhänger. Für den wichtigsten Menschen, für meine Tochter, die nicht bei mir ist. Damit sie immer Glück hat. Denn Glück ist, wenn man weiß, was man will.“

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