Mathilde schaltete das Radio an, um das fröhliche Pfeifen ihres Mannes nicht mehr zu hören. Seit Tagen ging das so. Wie ein Frischling sprang er aus dem Bett, kaum dass der Wecker klingelte und begann gutgelaunt den Tag. Das war nicht normal. Er drehte sich immer dreimal um und musste fast geschoben werden, um ins Bad zu gehen. Am Samstag schlief er gerne länger. Jetzt sprang er sogar sonntags kurz nach sieben Uhr aus dem Bett, um in aller Herrgottsfrüh Fahrrad zu fahren oder ein paar Kilometer zu joggen. Emil pfiff weiter. Er war schon über eine Stunde im Bad. Seit wann ging das so? Mathilde zermarterte sich den Kopf darüber, fand jedoch keinen Anhaltspunkt. Er hatte sich verliebt, dachte Mathilde, während sie den Orangensaft auf den Frühstückstisch stellte. Das wollte Emil seit einer Woche so. Das sind Vitamine, die jeder dringend brauche. Da musste ihm Mathilde sogar zustimmen. Trotzdem. Emil war anders und es konnte nur einen andere Frau der Grund dafür sein.
Als Emil grinsend in die Essecke kam und das Gute Morgen schon fast sang, blickte Mathilde kurz auf und musterte ihren Mann. Er hat sich die Haare gefärbt, dachte Mathilde und schwankte zwischen Lachen und Weinen. Nicht nur das. Er hatte Makeup ins Gesicht geschmiert. Ihr Mann schminkte sich! „Was glotzt du so?“
Emils Fröhlichkeit sank auf Null. Mathilde schwieg. Während ihr Mann das Glas Orangensaft im Stehen trank, bemerkte Mathilde, dass er auch abgenommen hatte. Bestimmt sieben Kilo. Er wirkte richtig schlank und sportlich. Kein Wunder bei den vielen Jogging- und Radrunden, die er in den vergangenen Wochen drehte. „Schau dich doch an, dann sind deine Fragen beantwortet. Übrigens, ich habe heute meinen großen Tag. Falls du doch noch an irgendetwas Interesse hast“, sagte Emil. Mathilde schwieg. „Es ist besser, wenn ich mir eine Wohnung suche“, meinte Emil als Abschiedsgruß, als er sich aufs Rad schwang, um in die Bank zu fahren. Seit seiner Ausbildung arbeitete er dort. Mathilde schaute ihm durch das Küchenfenster hinterher und blieb selbst dann noch stehen als schon lange nichts mehr zu sehen war. Nun war es also soweit. Er hatte ihre Befürchtungen ausgesprochen. Mathilde konnte nicht weinen. Sie hatte das schon lange vermutet. Doch was genau der Grund für seine Entscheidung war, hatte er wieder nicht verraten. Er redete in Rätseln. Es war ein Wunder, dass er überhaupt so viel über sich gesagt hat.
Schau dich an, hallte es in Mathilde nach. Sie zuckte die Schultern. Ja, sie brachte mehr Kilo auf die Waage als noch vor ein paar Jahren. Ja, sie hatte graue Haare bekommen. War das nicht normal mit 60? Vielleicht meinte Emil ihren Gesichtsausdruck? Worüber sollte sie lachen? Seit die Kinder aus dem Haus waren, gab es für sie keine Beschäftigung mehr. Der Haushalt war schnell erledigt. Schmutzig wurde nichts mehr. Mathilde räumte die benutzten Teller in die Spülmaschine und deckte den Tisch neu, da ihre Freundin Ellen zum wöchentlichen Montagsfrühstück kommen würde. Vielleicht sollte sie sich auch ein wenig Farbe gönnen, dachte Mathilde und tauschte ihre einfarbige Bluse in ein bunt gemustertes Shirt, als Ellen bereits klingelte. „Ich sehe, es geht dir noch nicht besser“, meinte Ellen anstatt einer Begrüßung. Mathilde schüttelte verneinend den Kopf. „Was sagt Emil dazu?“, hakte Ellen nach. „Er heißt nicht mehr Emil. Er möchte Milo genannt werden“, sagte Mathilde. Ellen prustete los. „Ich habe ihn nicht gefragt“, fügte Mathilde an. „Ich war mir sicher, er hat eine andere kennengelernt. Eine jüngere. Das ist doch typisch für Männer in dem Alter. Er will ausziehen“ meinte Mathilde. „Das hat er nur so gesagt. Für eine andere gibt es keine Anhaltspunkte“, meinte Ellen. „Was soll es sonst sein? Er meint es so.“ Mathilde schenkte sich und ihrer Freundin eine Tasse Kaffee ein. „Eine ganz normale Midlife Krise. Die männlichen Wechseljahre“, meinte Ellen und gab Kaffeesahne dazu. „Die Männer sind inzwischen emanzipiert. Schminke ist nicht mehr das Monopol der Frauen. Ist dir das noch nie aufgefallen?“ Mathilde schüttelte den Kopf. „Dass sich Frauen entweder die Haare lang wachsen lassen, wenn die Haare vorher kurz waren und umgekehrt, das schon“, meinte Mathilde. „Warum soll es bei Männern anders sein? Sie färben sich die Haare, sie rasieren den Bart ab oder lassen sich einen wachsen. Es ist nichts anderes als bei den Frauen“, meinte Ellen lachend. „Dazu muss er nicht ausziehen. Was meinte er mit seinem großen Tag?“ grübelte Mathilde laut. „Vielleicht wird er befördert“, half Ellen nach. Mathilde schüttelte den Kopf. „Davon weiß ich nichts. Eine Beförderung kurz vor der Rente wäre Unsinn.“ „Alles spekulieren hilft nicht. Du musst dich mit ihm aussprechen“, meinte Ellen und stand auf. Mathilde begleitete die Freundin zur Tür.
Vielleicht sollte sie sich auch eine Beschäftigung suchen, überlegte Mathilde auf dem Weg ins Bad. Oder sich auch die Haare färben? Erleichtert stellte sie fest, dass Emil oder Milo, wie er genannt werden möchte, die Zahnbürste hier gelassen hat. Die kann man sich auch kaufen, machte sie ihre Hoffnungen zunichte. Sie öffnete die Schranktür, als das Telefon klingelte. Es war das Stadtkrankenhaus. Emil ist in der Intensivstation. Er hatte Herzprobleme bekommen und ist beim Fahrradwettfahren der beiden Banken zusammengebrochen. Das war sein großer Tag. Er wollte allen beweisen, dass er noch nicht zum alten Eisen gehörte. Schnell nahm Mathilde den Autoschlüssel und fuhr ins Krankenhaus. Wie ein Häufchen Elend lag ihr Mann in dem Bett, den Sauerstoffschlauch in der Nase und hundert Schläuche am Arm, über die irgendwelche Medikamente in seine Körper transportiert wurden. „Wie lange nimmt ihr Mann schon Amphetamine“, sagte der Oberarzt, der unbemerkt ins Zimmer kam und sich neben Mathilde stellte. Mathilde schaute ihn fragend an und zuckte mit den Schultern. „Er hat Glück, dass es kein Herzinfarkt war“, meinte der Arzt. Amphetamine also, dachte Mathilde. Ein Aufputschmittel, keine andere Frau. Einerseits war Mathilde erleichtert. Emil öffnete die Augen. „Ich bin ein Idiot. Ich wollte das Alter nicht wahrhaben. Weniger Kraft, weniger Antrieb, dafür mehr Falten, mehr Wehwehchen. Ich wollte wieder jung sein, nicht müde und abgeschlagen. Fit und schwungvoll. Fröhlich, statt besorgt und ernst.“ Mathilde hielt den Zeigefinger an den Mund. Er solle sich nicht anstrengen, wollte sie damit sagen und trat an sein Bett. Sie strich ihn mit der Hand über die Wange, überlegte, was sie sagen sollte. Es konnte alles warten. Es war nicht mehr wichtig. Wichtig war nur, dass er noch am Leben war und sich der Herausforderung „alt werden“ stellte. Mathilde lächelte ihn aufmunternd an. „Du kannst die Uhr anhalten, aber nicht die Zeit.“
Text: Petra Malbrich