Müde rieb sich Baschar die Augen, während er die Straße entlang zur angegebenen Adresse hastete. Es war die siebte Wohnung, die er diese Woche anschaute. Und wie gerne hätte er in einem der Räume seinen Sessel und Tisch gestellt, um nach Feierabend die müden Beine ausstrecken zu dürfen. Vielleicht klappte es diesmal, dann hätte er endlich ein Zuhause. Hier würde sie sich immer fremd fühlen, hörte er seine Frau Nadira sagen. Jeden Tag. Um ihm dann anschließend zu erklären, wieder in die Heimat zurückzukehren. Eine Chance hatte sich Baschar erbeten, um endlich ein Heim für seine Familie zu finden und um hier heimisch zu werden.
Baschar blieb vor dem Reihenhaus stehen. Hausnummer 8, verglich er mit den Angaben in der Zeitung unter der Rubrik Vermietungen. Es war die richtige Nummer, sagte sich Baschar achselzuckend. Er war verwundert, dass keine weiteren Interessenten vor dem Haus auf den Vermieter warteten. Ebenso verwundert war wohl der Hauseigentümer selbst, als er die Tür öffnete. „Sind Sie wegen des Inserates hier“, fragte der Besitzer und ohne eine Antwort abzuwarten, sagte er: „Tut mir leid, dass Sie den Weg umsonst gegangen sind, aber die Wohnung ist bereits vermietet.“ Baschar lächelte resigniert. Das nahm er dem Hauseigentümer nicht ab. Er wusste, warum er keine Chance hatte, eine Wohnung zu mieten. Er hatte eine andere Hautfarbe. Man sah ihm an, dass er aus dem Nahen Osten stammte, als wäre es ihm auf die Stirn geschrieben. Den anderen ging es nicht besser, tröstete sich Baschar. Ob den Chinesen oder den Schwarzpigmentierten. Alle wurden in einen Hut gesteckt.
„Bitte, geben Sie mir eine Chance. Ich gebe Ihnen ein halbes Jahr Miete und genauso viel Kaution. Bitte lassen Sie mich die Wohnung anschauen und vermieten Sie an mich. Ich verspreche Ihnen, dass alles sauber bleibt, dass wir der Wohnung keinen Schaden zufügen werden. Sie werden es nicht bereuen, die Wohnung an uns zu vermieten“, bettelte Baschar als hinge sein Leben davon ab. Was in gewisser Weise auch so war. Seine Frau Nadira würde das Land verlassen. Sie war ausgelaugt, wollte nicht mehr auf beengtem Raum mit anderen Familien aus ihrem Land leben, die nicht wussten, wie sie sich verhalten sollten. „Ich habe eine Festanstellung“, bettelte Baschar weiter. Das war ein bisschen Lüge, denn er durfte bisher nur stundenweise aushelfen. „Hören Sie mit dem Gejammer auf. Es tut mir leid. Ich mache keine Unterschiede. Für mich ist jeder Mensch gleich. Wenn Sie nur ein paar Minuten früher dran gewesen wären, hätten Sie die Wohnung bekommen“, meinte der Vermieter. Baschar lachte auf.
Dieselben Ausreden, die er überall zu hören bekam. Würde er Nadira wieder sagen müssen, dass es mit der Wohnung nicht geklappt hat, würde sie endgültig ins Flugzeug steigen oder auf das Schiff, mit dem sie gekommen waren. „Wir haben dieselbe Religion wie Sie“, versuchte es Baschar erneut. „Gehen Sie weiter. Es hat keinen Sinn. Die Wohnung ist vermietet und das ist vielleicht gut so. Wie viele erzählen, dass sie eine Festanstellung haben und dann können sie die Miete doch nicht bezahlen. Nein, im Geld schwimme ich nicht, dass ich mir dieses Experiment leisten könnte. Am Ende ist niemand vor Ihnen sicher. Am Ende sind alle gleich“, meinte der Vermieter verärgert und schloss die Haustüre ab. Ja, am Ende waren alle gleich, dachte Baschar, meinte jedoch das endgültige Ende hier auf Erden. Es war das erste Mal nach Wochen, dass Baschar Tränen in die Augen schossen. Warum wurden alle Menschen, egal welcher Herkunft oder Aussehens in denselben Topf geworfen? Immer in den Topf, der überlief? Warum wurde niemand mit den Vorbildern einer Ethnie verglichen? Baschar wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht. Die Blöße, vor dem Vermieter zu weinen, wollte er sich nicht geben. Er würde Nadira anlügen, um ihren Entschluss hinauszuzögern. „Danke, dass Sie mir wenigstens zugehört haben“, meinte Baschar und ging mit hängenden Schultern hinaus auf die Straße.
Mit federnden Schritten lief der Vermieter an Baschar vorbei, ohne ihn noch eines Blickes zu würdigen, stieg ins Auto und fuhr auf die Hauptstraße. Er schien es eilig zu haben. Baschar hingegen lief wie in Zeitlupe. Das brachte ihm kostbare Zeit, um sich Ausreden für Nadira überlegen zu können. Baschar, der Name bedeutete Botschafter der guten Nachrichten. Es wäre schön, wenn er das könnte. Wir haben die Wohnung. In vier Wochen können wir einziehen. Das war eine gute Botschaft, das klang gut, entsprach jedoch nicht der Wahrheit. Wenn diese Lüge herauskam, würde Nadira kein Wort mehr mit ihm reden. Sie verabscheute Lügen. Er würde seine Familie so oder so verlieren, also konnte er gleich seine Koffer packen und mit ihnen in die Heimat zurückkehren. Heimat? Es war keine Heimat mehr.
Ein lautes Krachen, gefolgt von einem Hupkonzert schreckten Baschar aus seinen Gedanken auf. Ein Unfall, schoss es ihm durch den Kopf und er rannte in die Richtung, aus der der Lärm kam. Das Auto des Vermieters war völlig ramponiert. Er war wohl zu schnell eingebogen, hatte den Lastwagen ausgebremst, was aber nicht mehr gereicht hatte, sodass der Lastwagen auf das Auto auffuhr. Schnell holte Baschar das Handy aus der Hosentasche, wählte den Notruf und ging anschließend zur Unfallstelle, um nach dem Vermieter zu schauen. Er war hinter dem Lenkrad eingequetscht, das Gesicht schmerzvoll verzogen. Baschar tastete den Puls, tastete ihn vorsichtig ab und versorgte ihn so gut er konnte. Beruhigend redete er auf ihn ein, bis der Notarzt eintraf.“Soll ich jemanden informieren“, fragte Baschar den Hauseigentümer, der mit der Bahre zum Rettungswagen getragen wurde. „Warum haben Sie das getan? Sie hätten mich nicht versorgen müssen“, flüsterte der Vermieter. „Weil ich das Leben wertschätze und retten möchte“, meinte Baschar. „Ich bin Arzt“, fügte er hinzu. Der Mann lächelte und nickte. Beschämt drehte er seinen Kopf beiseite. „Hören Sie, wenn Sie die Wohnung noch haben möchten, würde ich mich sehr freuen, Sie als meinen Mieter nennen zu dürfen.“ Baschar nickte. Der Mann winkte mit der Hand Baschar näher zu sich heran.
„Ich hätte auf meinen Vater hören sollen. Mein Leben lang mahnte er mich, sich nicht von Vorurteilen leiten zu lassen. Man trifft sich immer zwei Mal im Leben, Junge, sagte mein Vater“, flüsterte der Vermieter. „Ich bin sehr froh, Sie ein zweites Mal getroffen zu haben“, sagte der Mann, als die Tür des Rettungswagens geschlossen wurde und das Martinshorn ertönte.