Ein Geigenreigen für Ronnie und Lou

Platsch. Platsch. Es dauerte genau fünf Sekunden, bis der Wassertropfen, der sich von dem Eiszapfen an der Dachrinne löste, beim Auftreffen auf den Spaten dieses Wort formte. „Ich bin wie ein Eiszapfen. Kann mich nicht mehr bewegen, nicht mehr reden und nicht mehr hören“, sagte Ronnie als sie damals zu Aldo unter die Brücke kroch, um windgeschützt zu sein. Sie rieb ihre klammen Hände aneinander. Ein Sternenfunkeln spiegelte sich in ihren Augen, während sie das sagte und dabei lachte. Sie streckte ihm ihre kalte Hand entgegen. „Ich bin Ronnie.“ So stellte sie sich vor. Ihre Stimme klang jung. Ihr Alter konnte er nicht schätzen, waren doch bereits tiefe Sorgenfalten in ihr Gesicht gezeichnet. Er schaute nur grimmig.

Bei jedem Wassertropfen, den Aldo auf dem Spaten hörte, musste er an Ronnie denken. Etwas ungehalten war er damals. Er wollte mit niemandem diesen Platz teilen, war froh, hier seinen Schlafsack ausrollen zu können, um windgeschützt die eisige Nacht zu überleben. Doch Ronnie blickte so hoffnungsvoll, dass er es nicht übers Herz brachte, ihr eine Abfuhr zu erteilen. „Ich werde dich nicht stören und nicht mit meinem Gequatsche belästigen“, versprach sie und hob drei Finger in die Luft. Wieder funkelten ihre Augen und doch konnte er einen Schimmer Traurigkeit im hinteren Teil ihrer rehbraunen Augen entdecken.

Er fragte nicht. Es interessierte ihn nicht. Das redete er sich zumindest ein und ignorierte Ronnie, als sie mit ihren wenigen Habseligkeiten, die sie in einer Plastiktüte gepackt hatte, bei ihm unter der Brücke einzog. Ihr Schlafsack war bereits verschleißt. Ihr rundliches Aussehen konnte an den vielen Kleiderschichten liegen, die sie trug, um bei den eisigen Minusgraden wenigstens nicht gleich zu erfrieren. Ab und zu schaute Aldo zu seiner Bewohnerin hinüber. Aus den Augenwinkeln heraus. Er wollte nicht indiskret sein. Aber auch nicht anteilslos. „Warum bist du obdachlos geworden“, fragte Aldo beiläufig.

„Ich bin von zu Hause fort. Eine Ausreißerin sozusagen“, sagte Ronnie. Ein wenig Traurigkeit legte sich in ihre Augen. Aber nur für eine Sekunde. „Sie wollten nicht, dass ich das Kind behalte. Ich soll es zur Adoption frei geben. Aber das tue ich nicht“, sagte Ronnie und schwieg. „Ich werde es behalten und ich werde meiner Lou eine gute Mutter sein“, sagte Ronnie nach ein paar Minuten und streichelte über den Bauch. Das also war der Grund, dachte Aldo und grübelte weiter.

Das Mädchen konnte nicht auf der Straße bleiben. Nicht bei diesen Temperaturen. Nicht, wenn das Kind lebendig zur Welt kommen sollte und ganz besonders nicht, wenn es da war. Einen warmen Unterschlupf würde er ihr suchen. Und viele Vitamine wollte er für sie kaufen. Jeden Tag schlich Aldo am frühen Morgen in das Gartenhaus, das er in der Kleingartensiedlung in der Nähe seiner Brücke gefunden hatte. Dort bewahrte er seine Geige auf, um sie vor den Wettereinflüssen zu schützen. Wo sich Ronnie tagsüber aufwärmte, wusste er nicht. Viel riskieren durfte sie nicht, wenn sie nicht gefunden werden wollte. Manchmal überlegte Aldo, seine Mitbewohnerin bei der Polizei zu melden, damit beide gesund blieben. Doch das brachte er nicht übers Herz, wusste er doch, dass Ronnies Eltern sie zwingen würden, das Kind zur Adoption frei zu geben. Das würde Ronnie ebenso umbringen wie die Kälte. In den nächsten Tagen legte Aldo Sonderschichten ein, spielte von früh bis spät Geige. Auf der Straße, im Bahnhof – überall, um so ein paar Euro zu verdienen. „Die versaufen das ohnehin gleich“, konnte er wieder von einem Ehepaar hören, die kurz stehen blieben. Diese Vorurteile war Aldo gewöhnt. Er spielte weiter. Spielte die schönsten Lieder für die ungeborene Lou. „Und wenn es ein Junge wird“, fragte Aldo eines Nachts unter der Brücke. Ronnie lachte. „Dann ist es auch ein Lou. Aber es wird ein Mädchen.“

Er spielte Vivaldi, spielte Bach und er spielte Mozart. Aldo liebte diese Musik, spielte die Stücke dieser Künstler als wären sie Teil seines Lebens. Das war auch eine Zeit lang so, als er als Lehrer für Geige am Konservatorium unterrichtete und Konzerte gab. Die Passanten honorierten sein Spiel, versanken in dem Geigenreigen für Lou, wie er seine Straßenkonzerte nannte. Jeden Abend kam er mit frischen Vitaminen und einem warmen Essen für Ronnie nach Hause. Sie strahlte ihn an, bedankte sich kindlich. Jeden Tag konnte es so weit sein. Jeden Tag warteten sie auf Lou und weil Aldo irgendwo gelesen hatte, dass Ungeborene Musik spüren, spielte er jeden Abend unter der Brücke die schönsten Stücke für die kleine Lou, während Ronnie das frische Obst aß. Auch gestern hatte er ein paar Orangen gekauft und ein großes Stück warme Pizza. Das schmeckte Ronnie so gut. Aldo freute sich, das Mädchen zu überraschen, hatte sich in das Sternenfunkeln in ihren Augen verliebt. Und er hatte eine noch viel bessere Überraschung für Ronnie. Er hatte diese alte unbewohnte Scheune gefunden. In dem kleinen ländlichen Vorort. Sie würden umziehen. Ronnie und Lou waren ein Teil von ihm geworden. Aldo konnte es kaum erwarten, ihr das mitzuteilen. Doch als er überschwänglich mit seinen Errungenschaften unter die Brücke kroch, war Ronnies Platz leer. Er suchte überall nach ihr. Fragte die anderen Obdachlosen, fragte in den Krankenhäusern nach. Niemand hatte Ronnie gesehen. Hatten ihre Eltern Ronnie gefunden? Hatte Lou bereits das Licht der Welt erblickt? Auf all diese Fragen fand Aldo keine Antwort. Er hoffte nur, Ronnie wieder zu treffen. Hoffte, dass sie irgendwann wieder auftauchte, sodass er sie mit Lou in diese Scheune bringen konnte. Eine schriftliche Nachricht konnte er nicht hinterlassen. Nicht in der Scheune, von der Ronnie noch nichts wusste und nicht unter der Brücke. Der Platz war leer. Aber er spielte. Jeden Tag legte er eine Sonderschicht ein und spielte Vivaldi, Mozart und Bach. Er spielte sich zurück ins Leben mit den Geigenreigen für Ronnie und Lou.

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