Die Sache mit den Sternzeichen

Irgendwo musste der Geldbeutel doch sein. Ines warf ihre Jacke vom Stuhl auf den Boden, wühlte die Handtasche erneut durch, leerte den Inhalt schließlich auch auf den Boden, um festzustellen, dass ihr Geldbeutel auch nicht in der Handtasche war. Die Bankkarte, ihr Führerschein und Fahrzeugschein, alles war in dieser Geldbörse. Je mehr Papiere ihr einfielen, desto panischer durchwühlte sie ihre Kleidung und Schubladen. Langsam, mahnte sie sich. „Wo hast du den Geldbeutel zum letzen Mal benutzt?“ Ines führte das Selbstgespräch als würde sie eine Freundin therapieren. Das war eine gute Frage, dachte sich Ines. Denn wenn sie das beantworten könnte, wüsste sie auch, wo ihr Geldbeutel wäre. Sie wühlte ihre Hosentaschen durch und schließlich den Blätterstapel auf ihrem Schreibtisch. Statt des Geldbeutels fand sie ihr Horoskopbüchlein. Das Horsoskop für jeden Tag für ein gelingendes Leben, verhieß der Titel. Zu Jahresbeginn hatte Ines in dem Büchlein Tag für Tag ihr Horoskop studiert und zugegebenermaßen versucht, danach zu leben. Stand dort sie würde am Abend eine nette Bekanntschaft machen, ging sie an dem Abend essen, um diese Bekanntschaft machen zu können. Ihre Freundin Charlotta tickte genau so. Bei ihr schien es zu funktionieren. Stand in dem Büchchen, dass in der Arbeit eine tolle Überraschung wartete, konnte Charlotta am Abend ihre Beförderung mitteilen. Stand bei Charlotta, dass sie an dem Tag besonders viel Glück hätte, erzählte sie, hundert Euro bei einem spontan gekauften Glückslos gewonnen zu haben.

Ines seufzte. Bei ihr konnte in dem Büchlein verheißen werden, was wollte. Noch nie war seit Jahresbeginn auch nur eine Prophezeiung eingetreten. Egal, ob Ines die Weichen dazu stellte oder nicht.

„Vielleicht hättest du ins Kino statt ins Restaurant gehen sollen“, hatte Charlotta damals trocken angemerkt.

Vielleicht hätte ich besser in einem anderen Sternzeichen geboren werden sollen, hatte Ines gedanklich hinzugefügt.

Aus Neugierde, wie viele Chancen in der Liebe oder im Beruf sie schon vertan hatte, blätterte Ines zu dem heutigen Tag.

„Sie können heute produktiv wirken“ stand in dem Büchlein. Ines prustete los. Ja, so konnte man die entstandene Unordnung auch nennen, dachte Ines und legte das Horoskop wieder auf den Schreibtisch. Mal lag es am Mars, dass sie sich unglücklich verliebte, dann lag es am Merkur, wenn in der Arbeit nicht alles lief, wie sie sich das wünschte und irgendwann kam die Venus, die für Missverständnisse sorgte. Ob wirkliche oder eingebildete.

Sie sprühen nur so voll Energie und Kreativität stand an dem Tag im Horoskop, als Ines mit einer heftigen Erkältung im Bett lag und am liebsten die Decke über das Gesicht gezogen hätte. Es stand irgendwie immer das Gegenteil von dem, was wirklich geschah, in dem Büchlein.

Ines hatte deshalb schon das Gegenteil getan. Haben ihre Sterne geraten einen schönen Abend mit Freunden zu verbringen, hatte sie sich allein zu Hause vor den Fernseher gesetzt. Aber auch so trat nie ein, was die Sterne vorhergesehen hatten.

Es machte keinen Sinn weiter nach dem Geldbeutel zu suchen, dachte Ines und zog ihr Horoskopbuch vom Schreibtisch.

„Dank Jupiter wird sich Ihr Kummer bald auflösen. So bleibt Zeit, sich ein neues Hobby zuzulegen. Es lohnt sich, den Abend mit ein paar romantischen Stunden zu beenden.“
Neues Hobby – Ines musste wieder lachen. Ja, wenn sie noch weiter so schusselig sein würde und ihre wichtigen Utensilien einfach wie ein kleines Kind ablegte, wo sie gerade stand, würde die Suche danach bald so zeitintensiv sein wie ein Hobby.

„Lass mich raten, liebes Horoskop. Selbst wenn alles gut laufen würde, käme dann nicht der Saturn, der wieder für Kopfzerbrechen sorgt?“, sagte Ines laut und schüttelte den Kopf über ihre Naivität, jemals diesen Aussagen Glauben geschenkt zu haben.

Was hieß jemals? Offenbar war sie wieder dabei, diesem Schund Glauben zu schenken, merkte sie leise an.

Ines hatte resigniert. Dann würde sie heute eben nicht einkaufen gehen und das Wochenende würde ziemlich trübe ausfallen, der Essensplan recht mager. Denn ohne Geldbeutel, ohne Karte kein Einkauf. Sich bereits an diese Gedanken gewöhnend, wurde Ines aus dem Trübsal gerissen, da ihr Handy klingelte. Es war ihre Mutter.

„Bevor du deine gesamte Wohnung auf den Kopf stellst, dein Geldbeutel ist bei mir. Du hast ihn in die Obstschale gelegt, als du dir ein paar Mandarinen abgeschält hast.“

„Zu spät“, meinte Ines.

„Oder gerade der richtige Zeitpunkt. Denn da du deinen Geldbeutel samt Papieren sicher holen wirst, kannst du gleich zum Abendessen bleiben. Es hat sich Besuch angekündigt. Besser gesagt, ich habe ihn eingeladen. Wir haben einen neuen Nachbarn bekommen und der junge Mann war so nett, mir bei meinen Gartenarbeiten zu helfen, weshalb ich ihn zum Essen eingeladen habe.“ Ines Mutter redete ohne Punkt und Komma. Meist, weil sie sich so eine Abfuhr von ihrer Tochter ersparen wollte.

„Ich weiß nicht. Das sieht doch blöd aus, wenn ausgerechnet ich heute Abend zum Essen komme.“

„Unsinn. Du brauchst deinen Geldbeutel“, erinnerte Ines Mutter.

Sollte ihr Horoskop endlich recht behalten? Ines schnappte sich das kleine Büchlein nochmal. Doch, hier stand es Schwarz auf Weiß. „Verbringen Sie am Abend ein paar romantische Stunden. Es wird ihr Leben verändern.“

„Es muss nicht gleich romantisch sein. Wenn es nett und unterhaltsam wird, bin ich auch zufrieden“, sagte Ines laut zu ihrem Spiegelbild. Sie brauchte fast genauso lang, ein passendes Kleid zu finden wie sie Zeit für ihre Geldbeutelsuche aufgewendet hatte und kam gerade noch vor dem neuen Nachbarn bei ihrer Mutter an.

Ines lächelte, als sie ihn sah. Er schien ebenfalls schusselig zu sein, dachte Ines, als sie Kai sah. Ganz nach Gentlemen Manier hatte er einen Blumenstrauß dabei und hätte beinahe den Bilderrahmen von der Kommode gestoßen, beim tollpatschigen Versuch, die Folie von dem Blumenstrauß zu wickeln.

Kai entschuldigte sich.

„Noch wäre es nur der Bilderrahmen gewesen. Aber ich warne Sie vor. In meinem Horoskop für heute steht, dass ich wohl zu viel Energie habe und mich deshalb am Nachmittag und Abend von Menschen distanzieren soll“, sagte Kai lachend.

Ein Mann, der sein Horoskop liest? Ines zog fragend ihre Augenbrauen nach oben.

„Was steht in Ihrem Horoskop“, fragte er Ines, als er sie mit Handschlag begrüßte.

„Dass ich heute eine neue Begegnung habe, die mein Leben verändern wird“, meinte Ines herausfordernd.

Kai lachte.

„Machen Sie sich auch über die Leute lustig, die ihre Horoskope lesen und das für bare Münze nehmen?“

Ines schaute verdattert.

„Finden Sie das wohl lustig?“ Ines antwortete mit einer Gegenfrage.

„Naja, was sonst?“

„Schätzen Sie die Arbeit anderer nicht wert?“, hakte Ines nach.

„Ja, doch. Sonst würde ich ja meine Arbeit abwerten“, meinte Kai.

„Die da wäre?“

„Ich schreibe Horoskope“, antwortete Kai.

Ines Lächeln war wie versteinert. Sie hatte sich blamiert. Das wollte sie so nicht stehen lassen.

„Das tue ich auch“, log Ines grinsend und ging in Gedanken nochmals den Text ihres heutigen Horoskops durch.

Ja, diese Begegnung würde eine grundlegende Änderung in ihrem Leben haben. Sie würde ihr Horoskopbüchlein in das Altpapier werfen, nahm sich Ines vor.

Oder doch nicht? Immerhin hatte es ihr eine unerwartete Begegnung vorhergesagt und nette Stunden. Konnte man den Sternen die Schuld geben, wenn solche Schussel sie nicht richtig deuten konnten? Verstohlen kramte sie in ihrer Handtasche und blätterte das Horoskop für morgen durch: „Glauben Sie nicht alles, was sie hören oder lesen.“

Text und Foto Copyright Petra Malbrich

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