„Unverwüstlich“

Ihre beiden Koffer standen noch mitten im Wohnraum. Seit zwei Tagen hatte Viktoria die Koffer nicht angefasst, obwohl darin ihr ganzes Leben lag. Nein, korrigierte sich Victoria. Das künftige Leben war in der großen Sporttasche bewahrt. Victoria ließ Leitungswasser in ein Glas laufen. Das Wasser war so sauber und klar, dass sie noch kein Mineralwasser gekauft hatte. Mit dem kleinen Wochenendhaus hatte sie sich ihren Lebenstraum erfüllt. Lange hatte sie überlegt, den Sprung ins Ungewisse zu wagen. Sie musste fast am Ende ihres Lebens ankommen, um den Mut aufzubringen. Viele Jahre hatte sie mit sich gehadert. Ungarn war das Land ihrer Geburt. Dort hatte sich ihr Leben abgespielt.

Sie wuchs in der ärmlichen Gegend auf. In einer Gegend, in der sie und ihre Familie als die Reichen galten. Wenn sie aus dem Haus ging, lagen ihr Acker und Felder zu Füßen. Die Mutter bearbeitete den Acker meist schon um 5 Uhr früh mit der Hand. Das hatte ihr gefallen. Oft war es ihr dann zu heiß. Aber sie hatten Geld, sie hatten Essen, was die Nachbarn oft nicht hatten. Sogar Victorias Hund habe mehr zu Essen als die Nachbarn, geiferten sie oft vor Neid. Es war deren Faulheit, schimpfte Victorias Vater zurück. Es waren freilich nicht alle Bewohner faul. Es war wie überall auf der Welt. Es gab solche Menschen und andere. Wie man es gelernt hatte, sagte Victorias Mutter oft.

Gerne verbrachte Victoria ihre Freizeit unter dem Apfelbaum. Dort war Victorias Reich, dort durfte sie Blumen pflanzen. Vor allem die Funkie war Victorias Glanzstück. Dieses Schattengewächs bestach mit ihren großen Blättern, die vom Hellgrün ins Blaugrüne wechselten. Wie sie zu dieser Pflanze kam, wusste sie nicht. Victoria war fleißig und vor allem wissbegierig. Sie lernte leicht und erreichte jedes Jahr mit besten Noten das Klassenziel. Studieren sollte Victoria, motivierten die Lehrer. Doch was? Victoria hatte keine Vorstellung, wie ihr Leben weitergehen sollte. Sie fühlte sich oft so fremd in der eigenen Familie, im eigenen Ort. Sie konnte nicht über die Scherze lachen, über die ihre Eltern lachten, sie hatte einen anderen Geschmack und völlig andere Grundsätze. Sie sei snobistisch, wurde ihr dann vorgeworfen und Victoria zog sich verletzt und beschämt zurück. Herablassend wollte sie nicht sein.

Das Gefühl nicht dazuzugehören, eine Fremde im eigenen Haus zu sein, wurde immer stärker, je älter Victoria wurde. Irgendwann entdeckte sie auf dem Dachboden einen alten Rucksack, bedruckt mit kindlichen Motiven. Die dicke Staubschicht verriet ihr, dass der Rucksack seit Jahren nicht mehr angefasst worden war. War das ihr Rucksack? Victoria konnte sich nicht erinnern, je einen Rucksack besessen zu haben. Der ihrer Mutter? War er ihr wichtig, weil sie ihn aufbewahrt hatte? Victoria zog ihre Hand wieder zurück. Doch aus einem inneren Instinkt heraus langte Victoria doch nach dem Rucksack und zog den Reißverschluss auf. Er war leer, sah Victoria. Sie drehte den Rucksack um und schüttelte ihn, damit herausfallen konnte, was sich in den Falten verklemmt hatte, falls dem so gewesen wäre. Tatsächlich fiel ein völlig vergilbtes Kärtchen heraus. Victoria hob es auf. Auf dem Namensschildchen war ihre Gesicht, als sie noch ein zweijähriges Mädchen war. Nur ihr Kopf war auf dem Schild. Daneben ihr Name. Der Nachname aber stimmte nicht. Mit der Karte stimmte etwas nicht. „Mit meinem Leben stimmt etwas nicht“, rief Victoria in die Stille des Dachbodens. In dem Moment als sie den Namen gelesen hatte, bestätigte sich ihr Verdacht. Sie war nicht Mitglied der Familie. Sie war eine Fremde. Doch wer war sie?

Victoria packte den Rucksack und lief damit in den Garten, wo ihre Mutter die Wiese mit Hand senste. Als sie den Rucksack sah, legte sie die Sense beiseite und wischte mit der Hand über ihre Stirn. Sie lief zum Wiesenrand, setzte sich und klopfte mit der Hand auf dem Boden neben sich. Victoria folgte dieser stummen Aufforderung. „Du bist nicht unser leibliches Kind“, sagte Victorias Mutter. „Deine leibliche Mutter war bei den Studentendemonstrationen 1956 dabei, der vom sowjetischen Militär blutig niedergeschlagen wurde. Deine Mutter wurde getroffen und starb. Dein Vater hatte dich auf dem Arm, rannte los und setzte dich auf der Straßenseite ab. Den Rucksack hatte er neben dich gestellt. Was genau passierte, wissen wir nicht. Er war wohl wieder zu deiner Mutter gerannt, um nach ihr zu sehen. Er überlebte den Aufstand auch nicht. Du bist in ein Heim gekommen, zu Familien, ich weiß nicht, wohin überall. Jedenfalls haben sie versucht, deine Familie zu ermitteln und dann haben sich Leute gemeldet, die sich als deine Verwandten ausgegeben haben. Ob sie es wirklich waren? Wir wissen es nicht. Jedenfalls kannten wir deine angeblichen Verwandten, die mit dir nichts anfangen konnten. Wir aber haben uns schon immer ein Kind gewünscht. Eine Tochter wie dich“, sagte Victorias Mutter und strich ihrer Tochter eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Victoria schüttelte den Kopf.

Das erklärte so vieles. Das erklärte alles. Warum sie sich oft so seltsam fühlte, nicht zugehörig, fremd in der eigenen Familie. Es erklärte ihre Traurigkeit, die sie nicht benennen konnte.

Es waren nicht ihre Eltern und sie hatte auch nie das Gefühl aufbringen können. Es war irgendwo immer das Gefühl, das ihr etwas fehlte. Und das brachte sie auf Distanz zu den Menschen, die ihr so viel geholfen haben, die ihr alles gegeben hatten.

„Übrigens in deinem Rucksack war der Ableger deiner Hosta, der Funkie, die du so hegst und liebst“, sagte Victorias Mutter. Sie zeigte mit dem Finger auf Victorias Lieblingspflanze unter dem Apfelbaum. Die Blume war ihr immer ein Halt. Warum brauchten Menschen Dinge, an die sie sich klammern konnten?

„Die Blume ist nahezu unverwüstlich, wächst und gedeiht unter allen Bedingungen. So sollst auch du wachsen und gedeihen, egal, was passiert, stand auf einem Zettel“, erzählte Victorias Mutter.

„Wir haben sie hier für dich eingepflanzt“, fügte Victorias Mutter hinzu.

Victoria trank ihr Glas leer. Viele Jahrzehnte hatte sie noch in Ungarn bei ihren Pflegeeltern verbracht. Selbst als beide gestorben waren, dauerte es noch Jahre, bis sie den Schritt wagte, ihr Land zu verlassen.

Victoria packte ihre große Hosta aus der Sporttasche, trug sie in den Garten und pflanzte die Blume unter einen Birnbaum.

Sie hatte nicht ihr Land verlassen, sie wollte ihre innere Leere verlassen, wusste Victoria in dem Moment, als sie die Blume goss. Doch schon jetzt erkannte sie, dass es unmöglich war. Die Leere hatte sie in sich. Sie würde überall leben können, flüsterte die Blume.

Foto und Text Copyright: Petra Malbrich

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