Der Sammler

Den Rucksack hatte Jenke bereits gepackt, Hammer, Meißel und Fäustel eingepackt und auch eine Spitzhacke bereit gestellt. Mit Enne, seinem Freund, wollte er Ammoniten ausgraben. Erst vor wenigen Tagen hatte er gelesen, dass in dem Steinbruch seltene Arten gefunden worden waren. Diese waren dementsprechend wertvoll und fehlten auch ihm in der Sammlung.

Noch vor Sonnenaufgang fuhren die beiden Männer los, denn der Fundort war einige hundert Kilometer entfernt. Die seltenen Funde hatten sich offensichtlich in der Sammlergemeinschaft bereits herumgesprochen, dachte Jenke, als er die vielen parkenden Autos sah. Schwer bepackt liefen Jenke und Enne hoch zum Abbauplatz, wo bereits Menschenmengen in den Steinhaufen wühlten, um die in den Steinen sichtbaren Umrisse der Schalen dieser früheren Meerestiere zu finden.

Ein schwarzes Bruchstück hatte Jenke in der Hand. Ein Alt-Tintenfisch, jubelte Jenke innerlich. Diese hatten noch eine Schale. Jenke wollte den Fund gerade seinem Freund zeigen, doch Enne war bereits weitergelaufen, unterhielt sich mit einem anderen Sammler. Er konnte Enne seinen ersten Fund später noch zeigen. Vorsichtig schob Jenke weitere Steine beiseite, hielt kurz inne, schob wieder, holte eine kleine Spitzhacke aus dem Rucksack und befreite den unter der Kiesschicht hervorschimmernden Stein. Er hatte einen kleinen Seeigel in der Hand. Zumindest war das einmal ein Seeigel vor sehr vielen Jahren. Beinahe hätte Jenke laut gejauchzt. Das war wie ein Hauptpreis. Es war ein guter Tag! Dieses Fossil war gerade mal vier Zentimeter groß, aber absolut selten. Mindestens 200 Euro könnte er für diesen Fund, gut präpariert, erhalten.

Er würde ihn nicht verkaufen, hatte auch die anderen Ammoniten nicht verkauft. Sie waren alle hinter Glas aufbewahrt. Er liebte es, diese vor 200 Millionen hier lebenden Tiere anzuschauen, liebte es, in diese Zeit einzutauchen. Oder in die Kreidezeit.

„Immer musst du dich mit toten Dingen beschäftigen und in der Vergangenheit leben“, hatte seine Freundin Nele geschimpft und ihm nach einigen Jahren den Laufpass gegeben. Für Jenke waren das keine toten Dinge, er ließ die Vergangenheit aufleben. Das war mit all seinen Sammlungen so, überlegte Jenke. Die Plattensammlung. Einige tausend Platten lagen in seinem Keller. Von Bands, deren Namen heute niemand mehr kannte. Er liebte es, die Entwicklung der Musikrichtungen zu untersuchen.

Er war leidenschaftlicher Sammler. In einem anderen Zimmer lagerten veraltete Geräte, in einem dritten Raum hatte er alles voll mit Büchern, die teils schon so vergilbt waren und muffig rochen.

Auch Figuren sammelte er, Trucks und selbst der Inhalt von Überraschungseiern war lange bei ihm aufbewahrt worden. Von diesen Dingen hatte er sich letzte Woche befreit, alles in den Mülleimer geworfen. Außer die kleinen Kunststofffiguren, die in jedem siebten Ei waren.

Unweit von ihm huschte etwas über den Steinhaufen. Jenke erkannte einen Vogel geschäftig mit dem Schnabel in den Steinen wühlen. Schnell zog er sein Handy aus der Jackentasche, scannte den ihm unbekannten Vogel ein und erhielt „Flussregenpfeifer“ als Antwort.

Er baut sein Nest aus Steinen, doch welche Steine dafür verwendet werden, entscheidet das Weibchen. Das Männchen sucht einen Stein aus, bringt diesen seiner Angebeteten und wenn diese den Stein für gut befindet, wird er für den Nestbau verwendet. Lehnt das Weibchen ab, verwirft der Vogel den Stein und sucht einen neuen.

Jenke musste lächeln, als er den Flussregenpfeifer mit einem Stein im Schnabel davonfliegen sah. Er war gespannt, ob der kleine Vogel mit oder ohne Stein wieder zu dem Haufen kam. Ein lauter Schrei durchbrach die Geschäftigkeit der Steinklopfer. Die wenigsten hörten den Schrei oder interessierten sich nicht dafür, dachte Jenke, als alle Ammoniten Sammler konzentriert weiter die Steinhaufen bearbeiteten. Es folgten weitere Schreie und Jenke nahm den Tonfall auf.

Turmfalke erhielt Jenke als Antwort von der Internetsuchmaschine. Er balzte wohl gerade. Jenke hielt sich die Hand an die Stirn als Sonnenschutz und suchte den strahlend blauen Himmel ab. Tatsächlich kreiste weit über den Steilwänden ein rotbrauner Vogel. Ob er dort sein Nest baute?

„Dachte du bist schwer dabei, Ammoniten zu sammeln, stattdessen nimmst du ein Sonnenbad? Ennes Stimme riss Jenke aus seinen Gedanken. Ennes Rucksack war so mit Steinen gefüllt, er platzte fast aus allen Nähten.

„Wir hätten besser einen Handwagen mitgenommen“, meinte Enne.

Jenke nickte. „Das nächste Mal“, sagte er.

Enne betrachtete den Freund von oben bis unten.

„Was ist mit dir? Ist dir ein Frosch über den Weg gelaufen?“

Jenke lachte. Dieser  Ausspruch war eine Kreation der beiden Männer, um Nele zu verschaukeln. Sie liebte alles spirituell zu interpretieren und dem Menschen Krafttiere zuzuordnen. Den Frosch beispielsweise. Der stand für geistige Erneuerung, für Veränderung.

„So betrachtet ist mir ein Frosch über den Weg gelaufen. Tatsächlich hat das eigentliche Tier eher wie eine Unke ausgesehen“, meinte Jenke.

Enne zuckte fragend die Schultern.

„Hast du die Ammoniten neu benannt?“

„Nein. Ich sammle keine Ammoniten mehr“, antwortete Jenke.

Das erklärte immerhin Jenkes leeren Rucksack.

„Ich sammle nun die wichtigen Dinge. Ich sammle jeden Augenblick.“

Foto und Text Copyright Petra Malbrich

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