Wieder keine Antwort. Immerhin hatte Mira seine Nachricht gelesen. Gregor starrte noch kurz auf das Foto, das sie vor einer Stunde geschickt hatte. Sie und ihre dumme Freundin Anka, mit einem Glas Sekt in der Hand in einer Bar. Mira spielte mit ihm, das wusste Gregor längst. Sie belog ihn, betrog ihn und das schlimmste war, sie hatte dabei keinerlei Hemmungen und für alles eine Ausrede. Für Mira war das Leben ein Spiel und jedes Mittel war ihr recht, solange sie ihre Freude dabei hatte. Dieses Mal war Schluss. Dieses Mal würde er ihr keine Träne mehr hinterher weinen, schwor sich Gregor, legte sein Handy wieder beiseite und betrachtete das Schachbrett, das vor ihm auf dem Tisch lag.
Akkurat wie Soldaten standen die 32 Figuren an ihrem Platz. Das Ziel des Spieles ist es, den eigenen König mit den eigenen Figuren zu beschützen und zugleich die Figuren so geschickt zu platzieren, dass der gegnerische König zugunfähig wird. Dann ist er besiegt. Schachmatt. Auf der hintersten Linie stand der König, rechts von ihm der Läufer, der Springer und der Turm, links vom König die Dame als engste Vertraute mit den meisten Zugmöglichkeiten, auch dort dann der Läufer, der Springer und der Turm. Vor den hoheitlichen Figuren standen die Bauern, das einfache Fußvolk, das nur einen Schritt laufen konnte und für alles den Kopf hinhalten musste.
Er war ein einfacher Mann, würde immer zum einfachen Volk gehören. Nie hatte ihm das etwas ausgemacht. Er arbeitete als Elektriker, war mit seinem Verdienst und den kleinen Annehmlichkeiten, die er sich damit leisten konnte, zufrieden. Einmal im Jahr in den Urlaub fahren und jeden Freitagabend Fernschach mit seinen Freunden. Das hatten sie während der Pandemie so gehalten, sich den Zug per Messenger geschickt und dann die Figur nach Anweisung auf dem Schachbrett entsprechend bewegt.
Weiß beginnt. Und Schwarz gewinnt. Das Sprichwort stimmte leider nicht. Statistiken zeigen sehr wohl, dass Weiß häufiger gewinnt. Sein Freund Paul hatte weiß und kurz darauf kam bereits die Nachricht, dass Paul seinen Bauern vor dem König zwei Felder nach vorne bewegt haben möchte. Gregor zog. So begann Paul immer. Den Bauern, der vor Gregors König stand zwei Felder nach vorne. Er wollte gleich im Zentrum Raum einnehmen. Gregor nickte. Mit dem echten Leben verglichen, war er „schwarz“, denn den ersten Zug durfte immer sein Bruder Bernd ziehen und er nahm auch den gesamten Platz ein. Alles drehte sich um Bernd, denn er war der lebhaftere, der intelligentere, der lustigere und schlagfertigere und wenn Gregor es einmal schaffte, eine gute Note erreicht zu haben oder etwas besonders Schönes gewerkelt hatte, so war es trotzdem Bernd, der an dem Tag etwas geschafft hatte, was Gregors Leistung wieder in den Schatten stellte. Zumindest war das seine Betrachtung und sein Empfinden.
Das zog sich durch das ganze Leben hindurch. In Bernd wurde investiert, da er studieren sollte, Gregor hingegen musste sich mit dem Mittelfeld zufrieden geben. Warum Nachhilfe bezahlen? Er würde doch Handwerker werden, da gab es viele freie Stellenangebote. Es war die Botschaft dahinter, die sich Gregor eingeredet hatte und die sich in ihm eingebrannt hatte. Er war es nicht wert. Er musste sich mit dem begnügen, was er hatte. Er blieb immer das Fußvolk, das den Kopf hinhalten musste, wie die Bauern auf seinem Schachbrett, während Bernd zu den hoheitlicheren Figuren mit wesentlich mehr Kompetenzen gehörte. Er war es wert, geschützt zu werden. Für ihn brachte man das Bauernopfer.
Gregors Handy klingelte erneut. Er wischte über das Display. Mira hatte ein Video geschickt, aufgenommen von ihrer Freundin Anka. Zu sehen war Mira, wie sie auf der Tanzfläche im bunten Laserlicht mit einem Fremden tanzend flirtete. Was wollte sie damit beweisen? Wie begehrt sie war? Sie wollte Gregor wieder verletzen, ihn klein halten, ihm zeigen, dass er immer in der ersten Reihe stehen würde, dort, wo die Bauern den König verteidigten und darin die ersten Opfer waren.
Natürlich war Gregor nicht so wortgewandt wie sein Bruder. Auch als das Aussehen verteilt wurde, würde er Bernd in der hinteren Reihe sehen, in der Königsreihe. Selbst beim Vornamen hatte Bernd den besseren gezogen. Gregor war schüchtern und als sich Mira scheinbar für ihn interessierte, war er der glücklichste Mensch der Welt. Er fühlte sich wie ein König und hätte alles getan, seine Dame zu beschützen. Doch sie wollte das nicht. Sie wollte ihn nicht als König, nur als Bewunderer und damit er dies auch blieb, teilte sie kleine Stiche aus, die ihn immer in die Bauernreihe zurücksetzten. Gregor blinzelte. Dieses Mal wollte er den Schmerz nicht mehr spüren. Angewidert löschte er das Kurzvideo und stellte den nächsten Zug nach, den Paul geschickt hatte.
Erst jetzt überblickte Gregor das Schachbrett wieder konzentriert und registrierte entsetzt, dass sein Gegner Paul mit einer Gabelstellung sowohl seinen König als auch die Dame bedrohte. Wie hatte er sich in diese Lage gebracht? Die Dame würde er wohl verlieren, dachte Paul und grinste.
Die Dame zu verlieren, würde nicht das schlechteste sein. Gregor stand auf, holte sein Werkzeug und baute ein neues Schloss in seine Tür. Die Dame konnte ihn nicht mehr verletzen, sie hatte keine Gelegenheit mehr für einen Zug. Er brauchte sie nicht auf seinem Spielfeld. Das Leben war deshalb längst nicht verloren. Mit den anderen Figuren konnte man auch noch gewinnen. Manchmal war ein einfacher Bauer doch mehr wert, dachte Gregor, dem es gelungen war, den Bauern auf die Königslinie des Gegners zu bringen. Statt einer Dame würde ihm ein Springer die besseren Dienste leisten, um Pauls König doch noch schachmatt setzen zu können.
Weiß beginnt und manchmal stimmt das Sprichwort eben doch.
Text Copyright by Petra Malbrich