„Hellobien“

Nebel stieg auf. Agatha entschied trotzdem, die Abkürzung zu gehen. Diese führte kurz nach der Bushaltestelle weg von der auch um diese Zeit noch gut befahrenen Bundesstraße, zu einem Feldweg, der wiederum fast parallel zur Straße verlief, nur durch eine Wildheckenreihe getrennt. Dennoch sparte sie sich mit der Abkürzung gut zehn Minuten Fußweg, umging sie damit zwei Ampelschaltungen.

 Agatha lief zügig, ihren Trolley im Schlepptau. Das war eine dumme Idee, schalt sich Agathe, denn die Rollen verursachten auf dem Asphalt einen Lärm, auf dem Feldweg war der fahrende Einkaufskorb noch umständlicher zu ziehen, versanken doch die kleinen Rädchen in dem matschigen Weg. Heftig rüttelte Agatha an dem Trolleygriff, um das Teil in Bewegung zu setzen. Aber den Kürbis konnte sie nicht anders transportieren, zum Tragen war er zu groß und zu schwer.

Einen kleinen Halloween Kürbis hatte sie verlangt, doch die kleinste Größe war nur mit beiden Armen umfassbar. Sie hätte überhaupt keinen Kürbis gekauft, wenn ihre  Schwester Corinna nicht angerufen hätte. Halloween, das interessierte Agatha nicht wirklich und Kinder hatte sie nicht. Aber eine zehnjährige Nichte, Sabine, die Halloween toll fand, von ihrer Mutter aus aber nicht feiern durfte. Agatha fand ihre Schwester einfach nur altmodisch. Kein Halloween, nur weil das aus Amerika kam, weil es mit dem christlichen Glauben nicht vereinbar war und weil Fasching im Februar oder März unter dem Namen Fasching gefeiert wurde und weil Geister nicht existierten… Ein Mädchen heute noch Sabine zu nennen, das fand Agatha auch altmodisch, aber es passte zu Corina. Nur musste Corina heute Abend arbeiten und damit Sabine keine Gruselfilme schauen durfte und sich das Bein gebrochen hatte, brauchte sie einen Babysitter oder eine Gesellschafterin. Also hatte Agatha zugesagt, und den Kürbis gekauft, den sie nun in einem Einkaufstrolley auf dem Feldweg zog oder besser gesagt trug, damit sie ein paar Meter vorwärts kam. Etwas knackte.

Agatha zuckte zusammen. Das musste von der Wildhecke kommen. Ein besseres Versteck als in diesem Dickicht gab es nicht. Die Halloween Nacht war ideal für Verrückte. Warum musste sie vorhin noch Nebel des Grauens schauen, um in schaurige Stimmung zu kommen? Passierte nicht genug? Warum lief sie überhaupt eine Abkürzung bei diesem Wetter an einem Tag, an dem sämtliche Leute ihr Gesicht hinter einer Maskerade versteckten? Wie bescheuert konnte sie sein?

Es ist keine einsame Abkürzung. Die Straße verläuft gleich parallel.  Jeder würde sie hören, verteidigte Agatha ihre idiotische Entscheidung, allein auf dem Feldweg im Nebel zu laufen. Agatha hielt die Luft an. Es war totenstill. Es musste ein Vogel gewesen sein, der von Agathas Schritten erschrocken war. Sie setzte den Trolley wieder auf den Boden, hielt inne und als sie beim stummen Zählen bei Drei angekommen war, rannte sie so schnell sie konnte, den Trolley hinter sich herziehend. Er flog nach links und rechts, irgendwann lag er seitlich auf dem Boden. Agatha war das alles egal. Sie rannte und zerrte den Trolley hinter sich her. Es knackte wieder. Doch statt innezuhalten und zu lauschen, rannte Agatha immer schneller. Der Nebel verhinderte jede Sicht. Agatha rannte, kam immer weiter nach links und stolperte in die Hecke. Ein Ast traf sie mitten im Gesicht, der Oberkörper landete in einem Strauch, der Dornen hatte. Das musste ein Weißdorn sein, kam es Agatha in den Sinn. Mit beiden Armen versuchte sie sich abzustützen. Vergeblich.  

Auf ihren Rücken drückte nun ein Gewicht. Sie war fest umfangen. Agatha wusste nicht, ob ein Mensch sie festhielt oder die Äste der Wildsträucher. Ihr Trolley? War ihr Kürbis durch die unsanfte Beförderung aus dem Wagen gerollt?

Nebel des Grauens, dachte Agatha, als wenige Meter weiter vorne ein heller Lichtschein aufleuchtete. Agatha schrie panisch.  Ein paar Jugendliche tauchten auf, alle hatten kleine Partylikörfläschchen in der Hand und lachten, als sie Agatha die Sträucher umarmend sahen. Agatha zitterte. Nasse Strähnchen hingen in ihr Gesicht. Sie wusste nicht, ob die Haare vom Nebel oder dem Angstschweiß nass waren. Durch die unsanfte Beförderung hatte sich der Verschluss des Trolleys gelöst, sodass die Tasche nun geöffnet war und der große Kürbis zur Schau stand. Sie wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Was sollten die Jugendlichen denken? Da rannte eine Frau an Halloween wie eine Furie schreiend einen Feldweg entlang, einen Riesenkürbis im Einkaufswagen ziehend und umarmte kniend Dornenbüsche.

Beim Sturz hatte sie sich den Fuß verstaucht, dachte Agatha und begann zu reimen. „Hello Kitty, Hello Pretty“, sagte Agatha drei Mal hintereinander. Das hatte sie mit ihrer Nichte Sabine immer gespielt, wenn sie bei ihr als Babysitterin war. Damals war Sabine noch ein kleines Mädchen. Dieses Spiel hatte sie auch mit ihrer Schwester Corina immer gespielt, wenn sie sich in der Nacht fürchteten. Meist, wenn sie ohne Erlaubnis der Eltern einen Gruselfilm geschaut hatten.

„Sollen wir einen Arzt oder die Sanitäter rufen?“, fragte einer der Jugendlichen. Er war als Skelett verkleidet, schien aber der nüchternste von allen gewesen zu sein. Agatha schüttelte den Kopf. Laut sagte sie: „Die Sanitäter müssen weiter, denn es gibt keine Leiter, um die Kranken zu versorgen…“ Was reimte sich auf Versorgen? Agatha überlegte angestrengt. So ein Unsinn. Was sie veranstaltete wurde immer dümmer. Dieser Ansicht waren auch die Jugendlichen. Einer sprach das laut aus. „Sie scheint eine Gehirnerschütterung zu haben.“ Agatha vermied es, die Jungen anzuschauen. Stattdessen redete sie einen Satz und formulierte einen anderen, dessen letztes Wort sich reimte.

Agatha wäre vor Scham am liebsten im Boden versunken, als Blaulicht durch die Hecke schimmerte. Sie war fast am Ende des Feldwegs angelangt, hätte nur noch drei Meter laufen müssen, um am Ende der Hecke wieder hoch zur Bundesstraße zu gelangen. Drei Meter. Agatha schüttelte den Kopf, als eine Sanitäterin den Weg herunterrutschte. „Sie hat eine Gehirnerschütterung. Sie redet, aber es sind keine sinngebenden Sätze, nur irgendwelche Reime“, meinte ein anderer Junge.  

Corina nickte. Sie ahnte Agathas Vorhaben und war verärgert. Sie hob fragend ihre Augenbrauen nach oben, während sie von dem Riesenkürbis im Trolley ins Gesicht ihrer Schwester blickte. „Halloween, Hallobien – e“ fügte Agatha kleinlaut an und hoffte, ihre Schwester verstand, dass sie nur ihrer kleinen Nichte „Biene“ mit diesem „Hallo“ eine Freude bereiten wollte. Die Jungen beobachteten die Sanitäterin. „Diese Syndrome sind eindeutig“, sagte Corinna zu den Jugendlichen und in Richtung Agatha „Nur mit Herz, wegen dem Schmerz.“ Mit dem Kinn deutete sie auf den Kürbis. Ein Herz durfte hinein geschnitzt werden, sollte das heißen. Agathas Antwort kam postwendend. „Oder mit einem Lachen zum Wiedergutmachen.“ Jochen ließ sein Likörfläschchen wieder in der Jackentasche verschwinden. Einer von ihnen hier, war nicht mehr ganz dicht.

Fotos und Text Copyright Petra Malbrich

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