Mühsam kletterte Noah über Steinbrocken, Holzbalken und kaputte Tischbeine und hoffte, den einen oder anderen Überlebenden noch zu finden. Alles hatte das Beben in der vergangenen Nacht zerstört. Die Behausungen, die nicht völlig dem Erdboden gleich gemacht wurden, hatten kein Dach mehr. Auf beiden Seiten der Mauer, die kilometerlang die beiden Länder teilte. Noah hielt die Leine seines Schäferhundes fest in der Hand, während er versuchte, über die Steine zu klettern. Natürlich war es unruhig, eine Nacht nach dem verheerenden Erdbeben, das trotz aller Vorzeichen wie aus dem Nichts losbrach.
Gerade heute musste die Grenze besser bewacht werden denn je. Nur heute konnte Noah nicht wie sonst an der Betonwand mit Stacheldraht entlang laufen. Trotzdem gab es Sichtlücken in dem Zaun.
Das Nachbardorf im anderen Land hatte es fast noch schlimmer erwischt, konnte er sehen, dort, wo die Betonmauer mit Eisengittern fortgesetzt worden war. Auch dort waren Reste der spärlichen Wohneinrichtungen mit Mauersteinen vermischt. Ein gelbes Shirt hing über einem Balken. Daneben eine Rose aus Seidenpapier. Für einen kurzen Moment war es Noah als würde ihm das Herz stehen bleiben. Amber, fuhr es Aladin durch den Kopf. Es waren Ambers Shirt und die Papierblume, die er erkannte und auch wenn Amber auf der gegnerischen Seite des Grenzstreifens lebte, so sorgte sich Noah jetzt erst recht um das kleine Mädchen, das einmal in der Woche nahe bei Noahs Grenzposten stand. Lag Amber verschüttet unter den Trümmern? Lebte sie noch? Bei diesen Gedanken schnürte es Noahs Kehle zusammen. Er schaute nochmal zu dem Stofffetzen. Es waren die feinen dunkelbraunen Fäden, die zu einem Muster in das Shirt eingearbeitet waren, was nur bei Ambers Shirt war. Sie war so stolz auf das Muster und hatte das Shirt jeden Tag an. Selbst aus der Ferne wusste Noah, dass es sich um Ambers Shirt handelte. Amber war sehr oft an die Grenze gekommen.
Noah konnte sich nicht mehr erinnern, wann sie zum ersten Mal da stand. Er war wie üblich mit seinem Hund am Zaun entlang gelaufen. Den ganzen Tag seine drei Kilometer auf und ab, den Zaun entlang bis zum nächsten Wachposten und wieder zurück. In der Regel schaute Noah auf den Boden und malte sich in Gedanken ein besseres Leben aus. Wobei als Grenzkontrolleur war er besser dran als andere Landsleute. Er hatte ein festes Einkommen und zu Essen und Trinken und Wasser, das hatte seine Familie auch. Das war ein Glück, das nicht jedem zuteil geworden war. Doch irgendwann hatte er sich beobachtet gefühlt und hatte an dem Übergang von der Betonmauer zur Eisenmauer aufgeschaut, obwohl sein Hund ruhig geblieben war.
Amber war auf ihrer Landseite gestanden, hatte sich an den Drähten festgehalten und zu ihnen herübergeschaut. Ein Kollege lachte und spuckte auf den staubigen Boden. Doch das kleine Mädchen beobachtete Noah und die anderen Wachmänner weiterhin mit ihren großen weit aufgerissenen rehbraunen Augen ernst an.
„Geh zurück“ hatte Noah freundlich, aber bestimmt gesagt. Doch das Mädchen reagierte nicht. Als wollte sie die Männer hypnotisieren, starrte sie in das andere Land, in das Land von Noahs Landsleuten. „Du sollst zurück. Das hier ist kein Spielplatz. Das ist zu gefährlich“, hatte Noah nochmal gesagt. Amber verzog keine Miene und drückte ihr Gesicht an den Eisendrahtzaun. Ein Kollege hatte Noah gehört und war mit festen Schritten, das Gewehr in der Hand zu Noah marschiert. Wie wild hatte Noah mit beiden Händen gestikuliert, doch Amber hatte sich nicht verscheuchen lassen. Sein Kollege redete verärgert auf Noah ein.
Eine Frau war auf der anderen Landseite herbei geeilt und nahm das Mädchen an der Hand. „Entschuldigen Sie. Es wird nicht mehr vorkommen“, hatte die junge Frau schüchtern, den Blick fest auf den staubigen Boden gerichtet, gestammelt. Aber Noahs Kollege fuhr die junge Mutter an, besser auf ihre Kinder aufzupassen. Das sei ein Grenzposten und sicher kein Ort für Kinder, mahnte Noahs Kollege. Die junge Frau nickte, entschuldigte sich ein weiteres Mal und erklärte, es sei nicht so einfach, da Amber taubstumm sei. Sie habe nur die Fahrzeuge gesehen und dachte, Wasser und Lebensmittel würden geliefert werden. Noch bevor Noah hatte beschwichtigen können, hatte die Frau Amber gepackt und von der Grenze weggezogen.
Von dem Tag an kam Amber fast jeden Tag in die Nähe der Grenze und schaute. Manchmal konnte Noah etwas Essbares durch den Draht reichen. Doch an einem Tag hatte etwas anderes Ambers Aufmerksamkeit erregt. Es war die Papierblume, die Noah in seine Jackentasche gesteckt hatte. Er hatte Amber die Blume geschenkt. Sie hatte daran gerochen als wäre es eine echte Blume gewesen. Es war ihr Lichtblick. Amber hatte nichts anderes gewollt als diese Blume. Kein Wasser, kein Stück Brot.
„Irgendwann bekommst du eine echte Blume geschenkt“, rief er Amber nach, obwohl er gewusst hatte, dass sie ihn nicht hören konnte. Ein paar Tage hatte Noah frei gehabt und war zum Markt gelaufen. Dort hatte er eine Blume gekauft. Eine Blume für Amber.
Doch in der Nacht kam das schwere Erdbeben und machte die Siedlungen auf beiden Seiten dem Boden gleich. Die Mauer sollte stärker bewacht werden, denn Flucht und Plündereien wurden erwartet. Noah schaute immer wieder zu den Männern und Frauen auf der anderen Seite. Verzweifelte Klageschreie hallten durch die Luft. Rettungswagen warteten irgendwo in dem Trümmerhaufen, um Überlebende in die spärlich eingerichteten Krankenhäuser zur Notversorgung zu fahren. Die zurückgebliebenen schaufelten weiter. Irgendwann ein kurzer Lichtblick und erwartungsvoller Aufschrei.
Einen Arm hatten sie freigeschaufelt. Behutsam arbeiteten sie sich in den Trümmern vor, bis das Kind zum Vorschein kam. Der Mann hob das Kind auf. Es war Amber, konnte Noah sehen. Ambers Mutter kam angerannt, strich zart über den Kopf des Mädchens und schrie das leblose Mädchen an. Doch Amber war in den Trümmern ums Leben gekommen. Noah hielt seine Rose in der Hand, hob sie hoch, damit Amber sie sehen könnte. Erst als sie das Mädchen weggetragen hatten, band er die Rose an den Zaun, direkt dort, wo der Maschendraht den Beton ablöste. Der dunkle Blütenknopf erinnerte an Ambers rehbraune Augen, die lächelten, wenn sie eine Papierrose sah.

Foto und Text copyright Petra Malbrich