
Völlig atemlos und mit tränenverschmiertem Gesicht kam Konstantin am Bachufer an. Auf den Knien schlängelte er sich am Ufer entlang, hob ein Blatt nach dem anderen hoch. Irgendwo unter diesen Uferfarnen musste der hässliche Frosch doch sein. Immer hastiger wurden Konstantins Bewegungen. Ein Blatt hatte er sogar abgerissen, in seiner ungestümen Art, den Frosch zu finden. Es war als hinge sein Leben davon ab, den Frosch zu finden.
„Ganz allein saß er auf der Bank. Er bemerkte nicht einmal, dass sich alle über ihn lustig machten“, schrie Konstantin verzweifelt in das Wasser, als würde der Frosch dann wissen, warum er ihn unbedingt brauchte. Während Konstantin suchte, tauchte immer wieder das Bild in seinem Kopf auf: Sein Vater allein am Tisch.
Sie hatten ein Straßenfest, zu dem nicht nur die Bewohner der Straße kamen, sondern auch viele aus anderen Straßenzügen. Eigentlich der ganze Ort. Auch sein Papa war gekommen, stellte Konstantin entsetzt fest. Warum tat er das? Warum kam er zu dem Fest? Er lebte doch nicht mehr hier. War ihm denn gar nichts peinlich? Warum musste er ihnen das antun? Ihm, Merle und Mama. Konstantin hatte überlegt, wie er reagieren sollte. Seine Schwester Merle hatte keine Berührungsängste und wollte sich gerade neben ihren Papa auf die leere Bank setzen, aber ihre Mutter hatte die Kinder zu sich gerufen. Natürlich hatte auch sie ihren Mann entdeckt. Sie habe einen wichtigen Anruf erhalten und sie könnten nun doch nicht am Fest teilnehmen, hatte Anna erklärt und hatte Merle am Arm gepackt. Konstantin hatte nur noch den fragenden Blick seines Vaters gesehen und dessen ausgestreckte Hand mit der er seine Kinder zum Tisch einladen wollte. „Es war kein Frosch“, hatte sein Vater noch gesagt.
Davon völlig verzweifelt und irritiert gewesen, war Konstantin einfach losgestürmt. Er musste zum Bach. Er brauchte den Frosch.
Nun stand Konstantin auf. Vielleicht hatte er aus der Höhe eine bessere Sicht. Hatte sich der Frosch unter einer Wurzel verkrochen? Vor einigen Wochen jedenfalls saß der hässliche glitschige grünbraune Frosch unter einem Blatt und glotze durch seine heraustretenden Augen Merle blöd an. Doch statt sich vor dem Tier zu ekeln, stieß Merle einen Jubelschrei aus.
„Du glaubst doch nicht wirklich, dass ein Prinz vor dir steht, wenn du ihn küsst“, hatte Konstantin zu seiner Schwester gesagt. Diese hatte über das ganze Gesicht gestrahlt und nur genickt. „Das ist ein Märchen, das Mama uns vorgelesen hat. Märchen sind nicht Wirklichkeit. Was im Märchen erzählt wird, passiert im richtigen Leben nicht“, hatte Konstantin seine Schwester aufgeklärt. Doch Merle hatte sich nicht beirren lassen. „Hilf mir, Konstantin. Bitte! Fang den Frosch für mich“, hatte Merle gebeten. Auch wenn er es nie zugeben würde, so hatte er seiner kleinen Schwester den Wunsch nicht abschlagen wollen. Sollte sie doch an ihre Märchen glauben, hatte sich Konstantin gedacht, war mit den Gummistiefeln ins Wasser gestiegen, hatte den Frosch gefangen und ihn in den mitgebrachten Eimer gesteckt. Merle hatte den Frosch tatsächlich küssen wollen, weshalb Konstantin den Frosch festgehalten hatte. Zusehen hatte er nicht können, als Merle ihren Mund auf den des glitschigen Tieres gedrückt hatte. Natürlich war nichts passiert.
„Warum wird er nicht zum Prinzen?“, hatte Merle enttäuscht gefragt. „Wir nehmen ihn mit nach Hause. Der Eimer ist sein Brunnen. Meine Kugel muss in seinen Brunnen fallen“, hatte Merle erklärt und wieder übers ganze Gesicht gestrahlt.
Da Konstantin seiner kleinen Schwester keinen Wunsch abschlagen konnte, hatte er den Frosch im Eimer nach Hause getragen.
Dort hatte Merle den Eimer neben ihr Bett gestellt und Konstantin versprochen, ihn tags drauf mit ihm wieder in den Bach zu bringen.
Ob Merle den Frosch in der Nacht noch einmal geküsst hatte oder einen Tischtennisball in den Eimer geworfen hatte, wusste Konstantin nicht. Er würde es nie erfahren. Er hatte Merle nicht gefragt. Denn als Konstantin an jenem Sonntagmorgen am Frühstückstisch saß und auf Merle wartete, betrat sein Vater die Essecke. Konstantin fiel der Löffel aus der Hand.
„Hat dich der Frosch geküsst?“, schrie Konstantin. Entsetzt stierte er seinen Vater an. Er sah aus wie eine Frau. Vincent war im Gesicht mit Lippenstift geschminkt, trug einen Rock und Stöckelschuhe und lächelte Konstantin nun unsicher an.
„Irgendwann musst du es erfahren“, hatte Vincent geflüstert, den Stuhl hervorgezogen und sich neben seinen Sohn gesetzt. Konstantin hatte den Kopf geschüttelt. Er wollte nichts hören. Vincent hatte den Arm um Konstantins Schultern gelegt. Konstantin schüttelte ihn weg. Er wollte von seinem Vater nicht mehr berührt werden.
„Was ich dir zu sagen habe, wirst du heute nicht verstehen. Womöglich wirst du es nie verstehen. Aber ich bitte dich, mich nicht zu verurteilen.“
Eine Pause war entstanden. Die kurze Stille hatte Konstantin fast erdrückt.
„Schon lange fühle ich mich in meinem Körper nicht wohl. Ich wollte nie ein Mann sein, fühlte mich immer wie eine Frau und seit einigen Monaten bin ich in Behandlung, um auch eine Frau zu werden. Ich habe mich nach vielen Gesprächen entschieden, das endlich öffentlich bekannt zu geben, damit ich mich auch außerhalb unseres Zuhauses wie eine Frau kleiden und bewegen kann. Selbst meinen Namen werde ich ändern. Ich werde mich dann nicht mehr Vincent, sondern Adelina nennen. Mama will mit mir nicht mehr zusammenleben, aber ich werde immer euer Vater bleiben“, sagte Vincent. Sein trauriger und bittender Blick hatte sich in Konstantin festgesetzt. Und doch hatte er seinen Vater nicht länger zuhören und ihn nicht länger ansehen können. Wortlos war er aufgestanden, den Eimer in Merles Zimmer geholt und den Frosch wieder in seinen Bachlauf gesetzt.
Konstantin war nicht zu Hause, als sein Vater ausgezogen war. Er hatte sich nicht verabschiedet und hatte seine WhatsApp Nachrichten allesamt gelöscht. Kein Wort wollte er von diesem Spinner mehr lesen. Das war schier unmöglich, denn wenige Tage später waren die Zeitungen voll mit Berichten über das bewundernswerte Outing von Vincent, der nun Adelina hieß. Jeden zweiten Tag wurde darüber berichtet. Jedes Mal kamen andere Unterstützer seines Vaters zu Wort und lobten Vincents Mut.
Jedes Mal kamen er und Merle weinend aus der Schule. „Wirst du morgen auch ein Mädchen? Heißt du dann Arielle? Dann brauchst du keine Frösche mehr sammeln, sondern kannst als Meerjungfrau mit ihnen um die Wette schwimmen.“ Konstantin tat als hätte er die Mitschüler nicht gehört. Natürlich hatte Merle von ihrem Froschkuss erzählt. Sie hatte sich nichts dabei gedacht und war stolz darauf, von ihren Freundinnen als mutig bezeichnet zu werden. Doch dieses Erlebnis war ihnen dann zum Verhängnis geworden. Konstantin hatte sich die Ohren zugehalten, um die dummen Aussprüche seiner Klassenkameraden nicht mehr hören zu müssen. Seine Mutter wurde zwar nicht gemobbt, doch die teils mitleidigen, teils schadenfrohen Blicke und die scheinheiligen Fragen nach ihrem Befinden, waren ebenfalls einer Hexenjagd gleichgekommen.
Nach vier Wochen waren zwar die Kommentare verebbt, aber die Nachwehen blieben. Die Freunde hatten sich von Konstantin und Merle zurückgezogen, als würden sie bei Kontakt mit einer Krankheit infiziert. Jeder hatte plötzlich viel zu erledigen. Anna musste sich eine neue Arbeit suchen. Immerhin war Vincent – Adelina wegegezogen, um seiner Familie weitere Schmach zu ersparen. Dachte er.
Nachdem die Meldung ein Mann wird zur Frau keine Sensation mehr verursachte, hatten auch die Medien kein Interesse mehr und die Unterstützer zogen sich ebenfalls zurück. Das hatte Konstantin schon öfter gesehen. Heimlich hatte er seinen Vater beobachtet und sich für ihn geschämt, wenn er sich in Frauenkleidung zum Clown gemacht hatte. Ganz offensichtlich war es am Straßenfest gewesen. Warum war er gekommen? Hatte sein Vater nur ihn und Merle sehen wollen? Hatte er gehofft, weiterhin mit den Menschen aus seiner Vergangenheit reden und lachen zu dürfen? Er hatte einsam ausgesehen. So als würde er den Schritt bereits bereuen. Wie peinlich er war. Hatte in tief ausgeschnittener Bluse und dick geschminktem Gesicht allein auf der Bank gesessen. Warum war er nicht einfach in Jeans gekommen, hatte Konstantin gedacht. Viele Frauen waren einfach in Jeans gekleidet. Das war für ein Straßenfest einfach bequemer. Konstantin hatte das alles nicht mehr ertragen und war weggerannt. Es musste der Frosch gewesen sein. Sein Vater musste den Frosch küssen. Er musste den Frosch finden, damit das Leben ihrer Familie wieder normal werden würde.
Endlich sah Konstantin eine grünbräunliche Färbung. Der Frosch saß unschuldig neben einem großen Blatt in Uferrandnähe und starrte Konstantin mit seinen schwarzen Glubschaugen an. Dann quakte der Frosch und lachte immer lauter.
„Du bist einfach nur dumm. Küss dich selbst“, schrie Konstantin, setzte sich auf den Boden, umfasste mit beiden Armen seine Knie, stützte den Kopf darauf und weinte.
Nie mehr wollte er einen Frosch sehen. Nie mehr seinen Vater.