
Larissa packte das Geschenk aus. Es war eine Konzertkarte, dachte sie entsetzt. Doch bevor sie den Sinn des Geschenks verstanden hatte, presste sie beide Hände an ihren Kopf als könne sie damit das innere Karussell zum Stillstand bringen. Sie kam sich vor wie bei einer Fahrt in der Petersburger Schlittenfahrt, ihrem Lieblingsfahrgeschäft auf jedem Volksfest. Dabei begann alles ganz harmlos. Eine Bitte wurde an Larissa herangetragen oder sie hatte eine Idee oder einen Vorsatz. Dann ging sie daran, den Vorsatz auszuführen. Sie stieg in das Fahrgeschäft ein. Doch sobald sich der Zug in Bewegung setzte, sich ihre Fahrkabine im Kreis und um sich drehte, immer schneller werdend, so drehte sich alles im Kopf. Mit dem Einsteigen hatte sie keine Kontrolle mehr, sie wurde gedreht, während sich der Zug immer schneller in Bewegung setzte. Dabei dröhnte Discomusik aus den Lautsprechern, Ohrwürmer, die man ohne Nachzudenken einfach mitsang, während man lachte, kreischte, die wilde Fahrt genoss. Wenn sie dann mit Schmetterlingen im Bauch ausstieg, war der Kopf wie leergefegt, sie lachte und lallte Unverständliches vor sich hin, sodass sie ebenso unverständliche Blicke erntete. Allein ein Rauschgefühl blieb und trieb Larissa vorwärts, ins nächste Fahrgeschäft hinein oder zu einer weiteren Runde Schlittenfahrt. Täglich passierte das und zwar mehrmals. Larissa brauchte nicht weit in die Vergangenheit gehen, um passende Beispiele zu finden. Erst gestern früh stieg sie zur Schlittenfahrt in die Kabine ein, als ihre Mutter sie bat, nach der Schule im Supermarkt eine Packung Blätterteig mitzubringen.
„Ich möchte Schinken- Käse- Gebäck als Fingerfood anbieten“, erklärte Larissas Mutter. Larissa nickte und dachte während der gesamten Unterrichtszeit an nichts anderes als an die Packung Blätterteig. Sie wollte endlich das erledigen, worum sie gebeten wurde. Blätterteig, wiederholte sie in ihrem Kopf monoton, ging nach Schulschluss prompt in den Supermarkt und hielt den Blätterteig in ihrer Hand. Dann fiel ihr ein, was ihre Mutter damit vorhatte. Schinken-Käse Baguettes wollte sie zubereiten. Schon war Larissa in die Fahrkabine eingestiegen. Baguettes, die wurden mit Mehl zubereitet. Doch Mehl, die Sache mit dem Gluten… Larissa kratzte sich am Kopf, blieb mit ihrem Fingernagel im Haar hängen, dachte nochmal kurz nach. Gluten, das war gar nicht so gut. Das Urgetreide war doch Dinkel, wenn sie letzte Woche richtig aufgepasst hatte. Gluten, das war sogar krankmachend, fiel Larissa ein. Die gesamte Verdauung funktionierte nicht richtig. Weizen konnte doch ersetzt werden. Aber Dinkel Blätterteig? Nein, das mochte ihre Mutter nicht, das wusste Clarissa sicher. Aber Mais wäre eine gute Alternative. Larissa durchsuchte die Regale, bis sie abgepackte Süßmaisteile gefunden hatte.
Sie nahm die Packung und schlenderte damit gerade zur Kasse, als die Schlittenfahrt stürmischer wurde. Plastik! Die Plastikberge, an denen Tiere elendig verendeten, wollte sie keinesfalls unterstützen. Mülltrennsystem hin oder her, irgendwann landete zu viel Müll im Meer. Nein, solange man den Süßmais nicht unverpackt kaufen konnte, wollte Larissa das nicht unterstützen. Sicher gab es dies auch in Papier verpackt, überlegte Larissa, durchforstete die Regale weiter und fand schließlich tatsächlich eine Papiertüte mit Maismehl. Erleichtert, das doch noch gefunden zu haben, packte sie die Tüte, bezahlte und ging hochzufrieden mit sich nach Hause. Die Schlittenfahrt war beendet, Larissa taumelte beseelt und wurde dann jäh in die Wirklichkeit geworfen, als ihre Mutter mit den üblichen „Kannst du nicht einmal deine Sinne beisammen haben und das erledigen, was man dir aufgetragen hat? Denk doch einfach mal nach, wenn du es nicht mehr weißt. So schwer sich das zu merken, ist es nicht. Was soll ich mit Maismehl, wenn ich eine Fertigpackung Blätterteig brauche?“
Larissa war zerknirscht. Es tat ihr wirklich leid. Sie hatte das nicht böse gemeint. Es ist die Schlittenfahrt. Mit jeder Geschwindigkeitssteigerung drehten sich ihre Gedanken immer schneller. Dann kam die Musik dazu und am Ende hatte Larissa Dinge erledigt oder gekauft, die kein Mensch brauchte.
Ruhig, beruhigte sie sich wie ein krankes Tier. Sachlich analysieren, flüsterte sie sich selbst zu. Du stehst hier am Regal für Computerspiele. Was wolltest du hier kaufen? Ein Geschenk für deinen kleinen Neffen? Aber was spielte er gerne? Larissa wusste es nicht. Sie blickte die Spiele an, direkt auf die Packung von Shooter- Spielen. Wie alt war ihr Neffe? Das war der Einstieg in die Fahrkabine. Die Schlittenfahrt konnte beginnen. Diese Ballerspiele waren nicht gut. Sie wollte das nicht unterstützen. Sie konnte sich noch gut an ihre Spiele erinnern. Das waren Brettspiele, aber auch Reaktionsspiele. Gleiche Farb- und Formkombinationen schnell erkennen. Das forderte die Konzentration, die Kreativität. Doch solche Spiele gab es nicht mehr, stellte Larissa fest, als sie ihre Augen über die anderen Spielereihen wandern ließ. Schließlich wollte sie nicht Schuld sein, wenn ihr Neffe schlechte Noten schrieb, aus Konzentrationsmangel durch schlechte Spiele. Ein Gutschein wäre die beste Lösung, um sich aus der Verantwortung zu stehlen, dachte Larissa und verließ die PC Abteilung ohne einen Gutschein. Denn diesen würde Elias doch nur für Ballerspiele einlösen. Larissa wollte verantwortlich handeln und kaufte ihm ein gutes Buch mit magischen Abenteuergeschichten.
Als Larissa das Geschenk zu Hause auf den Tisch legte, verdrehte ihre Mutter genervt die Augen.
„Kannst du nicht einmal deine Sinne beisammen haben? Kannst du nicht wenigstens einmal nachdenken und dich erinnern? Ein Spiel solltest du kaufen, kein Buch. Elias mag nicht gerne lesen“, schimpfte Larissas Mutter. Larissa nahm sich fest vor, das nächste Mal nachzudenken.
„Es ist als würde ich im Petersburger Schlitten fahren“, rief Larissa ihrer Mutter entschuldigend hinterher. Doch diese murmelte nur etwas Unverständliches zurück.
Zwei Tage lang lief es gut. Larissa redete sich ein, sich endlich konzentrieren zu können. So viel sie auch nachdachte, es hatte alles gepasst. Sie hatte keine Bitte falsch ausgeführt. Dass seither niemand eine Bitte an sie herangetragen hatte, das fiel Larissa nicht ein.
Nur wenige Tage später hatte Larissa Geburtstag. Auf diesen Geburtstag freute sie sich seit Wochen. Sie hatte sich ein silbernes Kettchen und die schicke Umhängetasche gewünscht. Darin hätten ihre Schulsachen Platz, die Tasche könnte aber auch umfunktioniert werden. Statt eines großen Geschenks lagen ein Kuvert und ein kleines Päckchen auf dem Tisch. Sie sollte sich wohl die Tasche selbst aussuchen, dachte Larissa. Das war vernünftig. Doch als sie das Kuvert öffnete und den Inhalt herauszog, hatte sie eine Karte für eine Oper in der Hand.
Bevor Larissa fragen konnte, erklärte ihre Mutter: „Nach deinen endlosen Petersburger Schlittenfahrten tut dir vielleicht die Zauberflöte ganz gut.“

Text und Foto Copyright Petra Malbrich