
Glück muss man haben. Das dachte Irene zum wiederholten Mal, als sie die Illustrierte durchblätterte. Ein Los und gleich den Haupttreffer in der Glückslotterie. Vor einer Woche hatte eine Frau das erste Mal Lotto gespielt und ebenfalls gleich abgesahnt. Natürlich wurde davon in den Zeitungen berichtet. Es solle schließlich viele Nachahmer geben. Auch Irene hatte sich von solchen Meldungen bereits verführen lassen und war gleich tags drauf in ein Lottogeschäft, um sieben Zahlen in einem Kästchen anzukreuzen, eine Woche später kaufte sie von jedem Glückslos eins und war wieder eine Woche später erneut enttäuscht, obwohl sie nie wirklich mit einem Haupttreffer gerechnet hatte. Heimlich jedoch schon, gestand sich Irene ein, während sie im Wartezimmer saß und weiter in der Zeitschrift blätterte, ohne den Inhalt wirklich aufzunehmen. Auch an den Losbuden an den Kirchweihen und Volksfesten hatte sie nie wirklich Glück. Während andere vier Lose kauften und gleich den Hauptpreis mit nach Hause tragen durften, kaufte Irene immer wieder weitere Lose, um dann mit einem Putztuch oder zwei Kochlöffeln als Trostpreis wieder nach Hause fahren konnte.
Sie fühlte sich wie Donald Duck, der immer wieder von seinem Cousin Gustav Ganz vorgeführt bekam, was Glück bedeutete. Immer den Hauptpreis in der Hand. Ein neues Auto, eine Reise ans Nordkap, eine Fahrt in einem Ballon oder ein gemütliches Abendessen im besten Restaurant für zwei Personen. Nur wurden die Donald Geschichten aufgrund massiver Beschwerden der Leser dann so geändert, dass auch der arme Tölpel zwischendurch zu den Glückspilzen zählte.
Welche Leute waren das, die immer wieder auf Anhieb Glück hatten? Irene blätterte weiter. Warum las sie diesen Kitsch und Klatsch über die Reichen und deren Unarten überhaupt, fragte sich Irene und drifte gedanklich wieder ab. Wohl weil die Stars keine weiteren Probleme hatten als die Frage, was sie am anderen Tag anziehen sollten und mit welcher Aktion sie wieder das Augenmerk der gesamten Bevölkerung auf sich zogen.
Wann hatte sie das letzte Mal Glück gehabt? Das war dreißig Jahre her. In der fünften Klasse, als sie einen Schulmalwettbewerb gewann und einen Taschenrechner als Preis erhielt. Es musste ein Versehen gewesen sein, denn sie konnte nicht malen.
Es wurde unruhig im Wartezimmer. Ein Schulkind hatte keine Geduld mehr, noch länger artig auf dem Stuhl zu sitzen und zu warten, bis endlich der nächste Patient ins Behandlungszimmer gerufen wurde. Irene blickte auf.
„Mir ist langweilig. Ich will nach Hause“, quengelte es immer wieder. Als die Mutter sich nicht aus der Ruhe bringen ließ, drohte das Mädchen.
„Wenn wir jetzt nicht nach Hause gehen, dann mache ich den Glückskäfer kaputt“, sagte das Mädchen und legte den Glückskäfer, ein Plüschtierchen, auf den Boden.
„Wenn du ihn kaputt machst, dann hast du kein Glück mehr“, antwortete die Mutter genervt.
Irene zog fragend eine Augenbraue nach oben, senkte den Kopf und blätterte die Illustrierte wieder von vorne durch.
Es dauerte noch fast eine Viertelstunde, als die medizinische Assistentin einen Namen rief. Das Mädchen und ihre Mutter standen auf.
„Es ist alles in Ordnung. Sie können nun nach Hause fahren“, sagte die Assistentin zur sichtlich erleichterten Mutter. Als das Mädchen das hörte, stieß sie einen Jubelschrei aus und stapfte mit ihren Fuß ein paar Mal auf das Plüschtier.
„Den Glückskäfer brauche ich nicht mehr“, sagte das Mädchen, ließ das Tierchen am Boden liegen und schloss die Wartezimmertür.
Irene, die nun allein im Wartezimmer saß, hob das Käferchen auf, wischte ihn an ihrer Hose ab und begutachtete das Käferchen. Ja, das war es. Glück hatte viele Gesichter.
„Glück ist, nicht immer dabei zu sein“, sagte Irene laut und steckte den Glückskäfer in ihre Hosentasche.
Foto und Text: copyright Petra Malbrich