
Immer wenn Jeremiah Mohnblumen sah, dachte er an Malu. Es war an einem sehr heißen Sommer vor einigen Jahren, als er als Tagelöhner durch die Dörfer streifte, um nach Arbeit zu fragen. Überall wurde ihm von den Großgrundbesitzern die Tür vor der Nase wieder zugeschlagen. Sie hätten genug Saisonarbeitskräfte, war deren Antwort. Eigentlich war Jeremiah genau das: eine Saisonarbeitskraft. Nur gehörte er keinem Trupp an, kam nicht mit anderen Saisonarbeitern aus Polen nach Deutschland. Er liebte es allein unterwegs zu sein. Er wollte sich das Zimmer oder den Container nicht mit den anderen Arbeitern teilen. Manche waren schüchtern, das war für ihn okay. Doch manche waren vorlaut, tranken abends zu viel Bier und wurden dann sehr laut und unleidig. Sie beleidigten und manchmal schlugen sie auch zu. Das war nicht Jeremiahs Lebensstil. Er war fleißig, er war ruhig und er war gerne allein.
Während anderen die Stille des Alleinseins unangenehm war, genoss Jeremiah die Ruhe, um nachdenken zu können und um viele Eindrücke als Erinnerung behalten zu können. Die klaren Nächte mit freiem Blick auf die Sternenkonstellationen beispielsweise. Oder wenn die Uhus riefen und sich ein Fuchs aus dem Untergrund herausschlich, um auf Pirsch zu gehen. Gerade weil ihm diese Eindrücke so gefielen, wollte er die Nacht nicht in einem Bett im Container verbringen, sondern rollte seinen Schlafsack unter einem Baum auf der Wiese aus. Mehr war es nicht. Das reichte, damit die Menschen, vor allem die Grundbesitzer ihn als Vagabunden betrachteten, als Tunichtgut, der keine sauberen Absichten hatte. Doch das war Jeremiah egal.
Seine Eltern waren sehr arme Leute. Oft zu acht waren sie in einem Zimmer dicht aneinandergedrängt. Alle schliefen in dem Zimmer, egal welches Alter sie hatten. Tagsüber verbrachten sie ihre Zeit in dem anderen Zimmer, das nicht größer war. Dort kochten und aßen sie, dort saßen sie ebenso dicht gedrängt aneinander, um sich zu unterhalten oder Fernsehen zu schauen. Die älteren Familienmitglieder konnten und mussten nicht mehr arbeiten, die jüngeren hatten wochenweise eine Beschäftigung. Das Geld durften sie nie behalten. Der Verdienst kam der ganzen Familie zugute. Damit wurden die Lebensmittel gekauft und der Strom bezahlt. Irgendwann hielt Jeremiah das nicht mehr aus, packte in einen Reisesack seine wenigen Habseligkeiten und verschwand. Nach Deutschland wollte er und als Saisonarbeiter anzuheuern. Er hatte viele Geschichten gehört. Er hatte Bekannte, die nach der Saisonarbeit beinahe wie Könige und Edelleute hier leben konnte. Der Verdienst reichte über den ganzen Winter und sie mussten nicht so beengend wohnen wie Jeremiahs Familie. Dass die anderen über eine Agentur angeheuert wurden, wusste Jeremiah nicht. Dennoch gab er nicht auf, tingelte durch die Dörfer und klopfte an jeder Tür.
Es war einer der kleinen Bauern im Ort, der sich erst am Kopf kratzte, dann einen Blick zu den nachbarlichen Großbauern warf und schließlich die Hand austreckte. So wurde der Arbeitsvertrag besiegelt. Ein Mann ein Wort, meinte der Bauer und hielt sich auch dran. Er gab Jeremiah sogar einen kleinen Vorschuss und er war damit einverstanden, dass Jeremiah unter dem Apfelbaum auf der Wiese gegenüber von Bauer Hajos Felder, seinen Schlafsack ausrollte. Von hier aus hatte Jeremiah, der von seiner kleinen Schwester immer Jerry genannt wurde, den besten Blick auf das ganze Tal. Hier wurde deutlich, wie viel kleiner die Besitztümer von Bauer Hajo waren. Die Saisonkräfte der anderen Bauern waren schon auf dem Feld, als Jerry aufstand, zum Bach ging, um sich das Gesicht zu waschen. Er trocknete sich gerade ab, als ein lauter Schrei durch das Tal hallte.
Zunächst war Jerry in Schockstarre, dann rannte er los in die Richtung, aus der die nimmer endend wollenden Schreie drangen. Es war ein unglaublich verzerrtes, schmerzerfülltes Fiepen. Sie hatten ein Reh erwischt, war Jeremiah klar. Er rannte noch schneller und lief durch das Getreidefeld, um abzukürzen. Drei Männer standen um das Tier herum. Die Maschine mit den meterlangen Mähbalken ratterte noch und spuckte unentwegt Abgase durch die Luft. Einer von den Saisonarbeitern deutete mit dem Kopf zu Jeremiah. Doch Jerry stapfte umso zielstrebiger auf die Saisonarbeiter zu, je grantiger und giftiger ihre Blicke in seine Richtung waren. Sie riefen etwas auf Polnisch. Jerry tat, als würde er die Sprache nicht verstehen. Jakub wurde der Anführer genannt. Er sah am stärksten, aber auch am gefährlichsten aus. Jeremiah schreckte das nicht ab. Er hatte wahrscheinlich nur eine große Klappe und ließ die anderen die Drecksarbeit verrichten. „Idź stąd“ – Verschwinde, riefen sie Jerry zu. Einen Teufel tat er. Die barsche drohende Anweisung verfehlte bei Jeremiah jegliche Wirkung. Er wusste genau, was passiert war. Jakub und seine Truppe hatten sich nicht an die Regeln gehalten. Sie hatten die Wiese nicht abgesucht, sie waren viel zu schnell über die gesamte Breite gerattert und hatten ein Kitz erwischt. Nur ein schwer verletztes Kitz schrie derart flehende abartige Laute aus.
Aleksander war der andere in Jakubs Truppe. Mit schnellen Schritten, die Hände bereits zu Fäusten geballt, stapfte er auf Jeremiah zu. Doch Jerry lief unbeirrt weiter zum Rehkitz. Kurz bevor er an dem verletzten Tier ankam, stieg Jakub wieder in das Mähgerät und ließ es zu Jeremiah rollen. Aleksander hatte das Kitz mit abgemähtem Gras vollgeworfen, damit es nicht mehr zu sehen war. Mit einem kräftigen Stoß stieß Aleksander Jeremiah beiseite. Er taumelte und landete auf dem Wiesenboden, direkt neben dem Kitz, das noch immer jämmerlich schrie. Jakub wusste, dass ein verletztes Kitz mit einer hohen Geldstrafe verbunden war. Der Großbauer würde Jakub und seine Truppe nach Hause schicken und sich andere Saisonarbeiter holen. Eiskalt würde Jakub nochmal über das Kitz fahren, wurde Jeremiah klar. „Töte es“, forderte Jeremiah Aleksander auf. Doch dieser schüttelte den Kopf. „Nie“, rief Aleksander immer wieder auf Polnisch, während er rückwärts zum Feldrand ging. Doch Jeremiah reagierte sofort, packte Aleksander mit beiden Armen und zwang ihn, zu dem Rehkitz zu schauen. Große dunkle Augen blickten Jeremiah an. Er musste würgen angesichts des Leids. Um das schnell zu beenden, zog er sein Messer aus der Tasche und beendete die Qual für das Kitz.
Aleksander blieb still, dann lachte er laut und belustigte sich über Jerry. Dieser saß am Boden, die Messerklinge und seine Hände blutgetränkt, als er eine junge Frau neben sich bemerkte. Es war die Tochter des Großbauern, die Jakub mit Marie-Luise ansprach. Dass er Jeremiah gezwungen hatte, das von ihm verursachte Leid zu beenden, hatte Jakub gelogen. Dass Jeremiah bei ihnen gemäht hatte, um die Heumahd dem Kleinbauern zuzuschanzen, hatte Jakub gelogen. Und dass Jeremiah das Kitz ersetzen müsse, für den finanziellen Schaden aufkommen müsse, hatte Jakub ebenfalls der Großbauern Tochter erzählt. Jeremiah hörte die falschen Anschuldigungen, konnte jedoch nicht widersprechen. Er starrte unentwegt in das schöne Gesicht der Bauerntochter. Marie-Luise – Malu, kürzte Jeremiah den Namen gedanklich ab.
Auch als Malu den Blick zu Jeremiah wendete, sagte er kein Wort. Kurz darauf war lauter Motorenlärm zu hören. Malus Vater war mit dem Motorrad auf dem Weg zur Unfallstelle. Jakub und Aleksander setzten den Großbauern in falsche Kenntnis. Dieser tobte und wütete und schubste Jeremiah. Doch Jerry konnte noch immer nicht klar denken, geschweige denn reden. Er blickte von dem toten Tier zu Malus Augen. Sie ähnelten sich, dachte Jeremiah. Sie waren genauso traurig wie die Augen des Rehs, dachte Jeremiah. Malu warf einen verstohlenen Blick zu ihrem Vater und dem eiskalten Jakub, der inzwischen wieder abgestiegen war und mit entschlossenen Schritten zu Malu lief. Besitzergreifend legte er einen Arm um die junge Frau, die Jeremiah dankbar für sein couragiertes Eingreifen anlächelte. Was Malus Vater brüllte und drohte, hatte Jeremiah nicht verstanden. Auch nicht, was Jakub und Aleksander und der andere namentlich unbekannte Saisonarbeiter von sich gaben, wusste Jeremiah nicht. Es waren sicher wieder obszöne unschöne und vor allem erlogene Sprüche, mit denen sie nun prahlten.
Jeremiah schaute noch einmal auf das Kitz. Ein paar Mohnblumen waren noch nicht abgemäht worden. Diese umrahmten den Kopf des toten Wilds. Malu hatte Tränen in den Augen. Diese und ihr rötliches Haar wischte sie mit der Hand beiseite, als sie von Jakub gedrängt die Wiese wieder verließ. Die Geldforderung von Malus Vater zahlte Jeremiah nicht. Er hatte kein Verlangen nach Richtigstellung. Bauer Hajo gab Jeremiah vier Tage Zeit, zu verschwinden. Als Jeremiah mit seinem gepackten Rucksack die Felder entlang lief, immer weiter bis zum nächsten Ort, hörte Jeremiah die Kirchturmglocken läuten. Marie-Luise heiratete Jakub, denn der Großbauer brauchte einen kräftigen Nachfolger, um die Ländereien seiner Tochter überschreiben zu können. Als die Glocke zum zwölften Mal schlug, pflückte Jeremiah eine Mohnblume ab. Die Blütenblätter wehten in der sommerlichen Brise wie Malus Haar. Jeremiah würde nie wieder in dieses Tal kehren.
Foto und Text, copyright Petra Malbrich