Elisabeth ist die Person, die nur einen kleinen Platz in meinem Roman „Dann kam Maria“ gefunden hat. Aber sie ist eine sehr wichtige Frau, weshalb ihre Geschichte hier als Fortsetzung erscheint. Hier nun der dritte Teil von Elisabeth:

„Eine Gehirnerschütterung hat sie nicht. Nur ein paar Mangelerscheinungen, vor allem Eisenmangel, wurden festgestellt. Das wird sich schnell geben, sie bekommt Tabletten mit nach Hause“, erklärte die Schwester. Sie sah kurz von der Patientenakte auf.
„Betreuen Sie den Fall?“, fragte die Schwester.
Elisabeth nickte.
Den Fall. Julia würde immer ein Fall bleiben und somit auch Marie, die Tochter einer Aktennummer.
„Sie wird morgen entlassen. Ab zehn Uhr bekommt sie ihre Entlassungspapiere.“
Namentlich wurde mit und über Julia Homann nicht geredet. Ebenso wenig interessierte es, wer Julia abholte. Da nichts Schlimmeres passiert war und jeder „normale“ Mensch Eisenmangel haben konnte, wurde wohl auch von amtlicher Seite keine weitere Betreuung in die Wege geleitet, überlegte Elisabeth. Sie fühlte sich erleichtert. Der jungen Frau Marie nehmen zu müssen, das hätte wohl auch Elisabeths Herz gebrochen. Dieser Gedanke sollte für Elisabeth ein Warnsignal sein. Sie hatte sich zu sehr involvieren lassen. Sie musste unbedingt Distanz wahren. Stattdessen bedankte sich Elisabeth für die Auskunft, ging zurück zu Julia ins Zimmer, um sich zu verabschieden und mit Marie nach Hause zu fahren. Wieder zu viel Nähe.
Vorher musste sie noch Einkäufe erledigen.
Neben den notwendigen Lebensmitteln packte Elisabeth noch Leckereien in den Wagen, von denen sie annahm, sie würden Marie schmecken. Mit großen Augen beobachtete Marie, sagte jedoch keinen Ton und forderte nichts.
Marie war noch immer argwöhnisch. Durfte sie wirklich bei Elisabeth bleiben oder wartete hinter der nächsten Ecke eine fremde Person, die dann Marie mit nach Hause nehmen würde?
Deshalb beobachtete Marie auch den Parkplatz mit Argusaugen, während Elisabeth die Einkäufe in Taschen verpackte und in den Kofferraum stellte.
Elisabeth war noch nicht ausgestiegen, als ihre Mutter bereits zur Einfahrt lief.
„Warum gehst du nicht ans Handy? Du hast doch gesehen, dass ich…“
Ihr Blick fiel auf Marie, die noch immer artig im Auto saß.
„Wen hast du dabei? Du wirst doch nicht…..“
„Das ist Marie, einer meiner Schützlinge. Ihre Mutter hatte heute einen kleinen Schwächeanfall und ist im Krankenhaus. Deshalb übernachtet Marie heute bei uns“, erklärte Elisabeth. Sie schulterte eine der Einkaufstaschen und wartete, bis Marie ausgestiegen war. Immer noch hatte das Mädchen die Puppe fest an sich gedrückt.
Elisabeths Mutter blickte von ihrer Tochter zu dem fremden kleinen Mädchen.
„Komm ins Haus, mein Kind. Ich heiße Frieda.“
Elisabeths Mutter streckte Marie die Hand entgegen und schob sie sanft in den Hausflur, damit sie außer Hörweite war.
„Und du“, sagte sie zu ihrer Tochter, „bist verrückt. Willst du deine Arbeit riskieren?“
Mit einem rügenden Blick sah Elisabeth ihre Mutter an.
„Das ist doch Unsinn. Soll ich das Kind auf die Straße stellen? Ich sagte doch, ihre Mutter ist im Krankenhaus. Das Kind wäre allein zu Hause. Sie heißt Marie, nicht Kevin.“
Den Seitenhieb auf die kitschige amerikanische Weihnachtskomödie konnte sich Elisabeth nicht verkneifen. Manchmal nahm ihre Mutter die Dinge zu ernst. Den Inhalt solcher Filme beispielsweise.
„Du sollst dich sofort bei der Polizei melden. Warte…“, Frieda kramte in ihrer Jackentasche nach dem Zettel, auf den sie den Namen des Polizeibeamten geschrieben hatte.
„Thomas Bernstein heißt der Beamte, der dich dringend sprechen muss. Das Mädchen ist als verschwunden erklärt worden. Und jetzt kommst du mit dem jungen Ding an der Hand bei uns an. Deine Arbeit in Ehren. Aber ich habe dir schon immer gesagt, dass sich solche Menschen niemals ändern“, schimpfte Frieda.
Solche Menschen! Elisabeth verdrehte die Augen. Schon der Ausdruck diffamierte die Betroffenen.
„Sie ist nicht taub“, rügte Elisabeth.
„Sie hört uns nicht.“
„Sie hört mehr als du glaubst“, meinte Elisabeth. Sie war verärgert. Nicht nur weil Marie alles hören konnte, vielmehr über die fehlende Anerkennung für ihr berufliches Engagement.
Frieda Singer hob abwehrend beide Hände hoch.
„Ich bin einfühlsam. Du kannst getrost mit dem Herrn Polizisten reden“, meinte Frieda.
Elisabeth zog eine Grimasse, bevor sie sich wieder ins Auto setzte. Sie fuhr zur Polizeidienststelle, um die Situation mit dem Beamten selbst zu klären. Mit Bernstein konnte man reden, wusste Elisabeth und strich sich mit der Hand die Haare aus der Stirn. Das tat sie immer, wenn sie eine neue Herausforderung angehen sollte. Wofür brauchst du dieses Mal einen klaren Blick, hatte ihre Mutter diese Angewohnheit lachend kommentiert.
Zielstrebig lief Elisabeth in das Dienstgebäude.
Als Thomas Bernstein Elisabeth erkannte, stand er von seinem Schreibtischstuhl auf und winkte sie zu sich. Er war eher der wortkarge Typ.
„Meine Mutter hat mich unterrichtet. Ich bin verwundert. Wer hat Marie Homann als vermisst gemeldet?“
„Patrick Fährmann. Der Vater des Mädchens.“
„Er ist doch nie mehr aufgetaucht? Woher weiß er von Julia Homanns Krankenhausaufenthalt? Ich werde ihm das Mädchen nicht geben.“
„So edel Ihre Ziele sind, aber es wird Ihnen wohl nichts anderes übrig bleiben“, meinte Bernstein.
„Das hat nichts mit edlen Zielen zu tun. Das dient ausschließlich dem Wohl des Kindes.“ Elisabeth war erregt.
„Das Gesetz sieht das anders.“
Elisabeth wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Angesichts dieser Hiobsbotschaft schlug sie die Hände vors Gesicht.
„Wie ist der Lebenslauf des jungen Mannes?“
„Da Sie sicher selbst im Computer nachschauen werden, kann ich es Ihnen gleich sagen. Kontaktscheu ist er wohl nicht. Und gesellig ist er nur solange es nach seinen Vorstellungen läuft. Der IQ ist unter dem Durchschnitt. Die schnellste Reaktion zeigt sein loses Mundwerk.“
So ähnlich hatte sich das Elisabeth vorgestellt.
„Kinder?“
„Weder noch. Keine eigenen, keine Auffälligkeiten.“
Thomas Bernstein hatte die Antworten zusammengefasst. Elisabeths Interesse, ob sich Patrick Kindern gegenüber auffällig verhielt, brauchte nicht erklärt werden.
Über die Antwort hätte sie sich eigentlich freuen müssen. Trotzdem schaute die Sozialarbeiterin skeptisch.
„Gefängnisstrafen?“, fragte Elisabeth weiter.
„60 Stunden Sozialdienst wegen mehrmaliger Diebstähle im geringfügigen Bereich.“
Es hätte schlimmer klingen können. Trotzdem traute Elisabeth dem Frieden nicht……
FORTSETZUNG folgt……