EISBLUMEN

Kurzgeschichte von Petra Malbrich

Es war kalt. Eisblumen hatten sich am Fenster gebildet. Nüchtern betrachtet hieß es, es war kalt, die Fenster zu dünn und die Hütte einfach nicht gut isoliert. Nichts anderes als ein etwas größeres Gartenhaus war diese Hütte, in der Jolanta vor vielen Jahren gewohnt hatte. Der Nachfolger von Jolantas Hütte ist ein Tiny Haus. Platzsparend wie Jolantas Hütte. Nur würden sich an den Fenstern der Tiny Häuser keine Eisblumen bilden. Katharina fand diese Kristallgebilde wunderschön. Sie verband die Blumen nicht mit Kälte sondern mit einer ihr bis dahin nie gekannten Wärme und Behaglichkeit. Eisblumen waren für Katharina das Synonym für heimelig. Dieses Gefühl endlich zu Hause zu sein, brauchte sie nun dringend.

Ihre Koffer standen noch im Flur, sofern man das bisschen freie Fleckchen zwischen der Haustür und dem Wohnraum so nennen konnte. Gestern hatte Katharina nach ihrer gescheiterten Beziehung Toronto verlassen und war wieder nach Deutschland geflogen. Einfach so, aufs Geradewohl. Denn Familie hatte sie weder in Kanada, noch in Deutschland. Katharina war Waise. Inzwischen. Ihr Vater war bereits kurz nach ihrer Geburt bei einem Betriebsunfall ums Leben gekommen. Katharinas Mutter hatte dann versucht, sich und ihrer Tochter ein Leben zu ermöglichen. Das bedeutete, ihre Tochter oft nur zwischen Tür und Angel zu sehen, denn Katharinas Mutter arbeitete Schicht und hatte kaum Zeit, ihrer Tochter bei den Hausaufgaben zu helfen.

Es war ein ebenso kalter Wintertag wie heute. Der Montag, nach dem ersten Advent. Normalerweise freute sich Katharina auf diese Adventsmontage. Da wurde die grelle Neonbeleuchtung durch das gemütliche Flackern des sanften Kerzenlichts getauscht und sie durften mitgebrachte Plätzchen naschen. Nur an jenem Montag wurden vor der Adventsfeier die Aufsätze ausgeteilt. Hässlich sah die Fünf am rechten Rand aus. Nicht einmal das Kerzenlicht konnte das grelle Rot der Note in einem weicheren Licht erscheinen lassen. Ein dumpfes, mulmiges Gefühl breitete sich in Katharina aus. Dass sie keine gute Note schreiben würde, wusste sie eigentlich. Trotzdem war es etwas anderes, sich die Note vorzustellen und dann diese tatsächlich Rot auf Weiß vor sich zu sehen. Es war die Hoffnung, die damit genommen wurde. „Welches Licht dir helfen könnte, endlich eine Erleuchtung zu haben, das weiß ich leider auch nicht. Was soll ich sagen? Weiter so, dann schafft du das Klassenziel garantiert nicht. Kein Wunder, bei deinen Lebensumständen“, sagte die Lehrerin, als sie Katharina das Blatt abfällig auf den Tisch warf. Beschämt blickte Katharina auf den Tisch und drehte ihre Arbeit gleich um, damit nicht ihre Banknachbarn neugierig und schadenfroh grinsend ihre Aufsatznote bestaunten. Auf die unehrlich gemeinten Kommentare wie „mach dir nichts draus oder beim nächsten Mal wird es besser“, konnte sie verzichten. Am schlimmsten fand Katharina, wenn ihr eine Mitschülerin scheinheilig Hilfe anbot. Was die Lehrerin an Katharinas Leben auszusetzen hatte, wusste Katharina auch nicht. Sie war verärgert und traurig, beschämte sie doch ihre Mutter mit der mangelhaften Arbeit, die sie geschrieben hatte. Fest nahm sich Katharina vor, das zu ändern. Wie, das wusste sie noch nicht, denn die richtigen Worte zu finden, spannende Geschichten zu erzählen, das war ihr noch nie leicht gefallen.

Niedergeschlagen verließ Katharina nach Schulschluss die Schule. Sie hatte es nicht eilig, nach Hause zu kommen. Statt ihren gewöhnlichen Schulweg zu gehen, lief Katharina einen Umweg, der sie am Ortsende nahe der Felder und Wälder heranführte. Meterhohe Schneeberge waren dort aufgetürmt. Alles, was der Winterdienst von den Straßen räumte, wurde am Ortsende an dem zentralen Platz gesammelt, damit die Müllabfuhr, Post und Feuerwehr die engen Siedlungsstraßen passieren konnten. Dort, einige Meter vom Ortsende entfernt, stand Jolantas Gartenhaus. Ziemlich abseits von den anderen Häusern. Katharina blieb stehen. Sie stellte sich vor, wie es wäre, in dieser einsamen Hütte zu leben. Einsam wäre es. Aber auch schön, dachte Katharina und bestaunte die Eisblumen an Jolantas Fenstern. Was die Frau jetzt wohl machte, überlegte Jolanta und wollte gerade durch das Fenster spitzen, als eine Frauenstimme hinter ihr ertönte. „Was suchst du hier, in dieser Kälte.“

Erschrocken drehte sich Katharina um und begann ein Kauderwelsch zu stottern. „Spar dir das. Ich weiß schon. Entweder Ärger mit dummen Mitschülern oder eine schlechte Note“, meinte Jolanta wirsch. Katharina nickte. „Du wirst krank, wenn du noch länger hier herumstehst. Deine Schuhe sind patschnass. Komm rein oder geh nach Hause“, sagte Jolanta. Katharina überlegte, während Jolanta die Tür aufhielt und wieder in ihre Hütte verschwand. Gemütliche Wärme schlug Katharina entgegen. Katharina fühlte sich schlagartig geborgen. Es war als würde sie zu Hause erwartet werden. Wenn sie normalerweise nach Hause kam, war es kalt. Erst Katharina schaltete die Heizung ein. Bis die Räume etwas überschlagen waren, war Katharina meist ein Eiszapfen. „Fast wie diese Eisblumen“, fügte Katharina erklärend an.

Die ältere Frau brummte. „Hm. Ein Kind allein, das ist ja auch nichts.“ Dann deutete sie Katharina an, sich in den Sessel an den Kamin zu setzen, während sie ein dick mit Marmelade bestrichene Scheibe Brot und einen heißen Kakao auf den Tisch stellte. „Nun iss erstmal etwas und wärme dich auf“, brummte Jolanta. Mit vollem Mund erzählte Katharina, was ihre Lehrerin sagte. „Deine Lehrerin ist ebenfalls dumm wie deine Kameraden“, sagte Jolanta. „Es kommt doch nicht drauf an, ob man eine schlechte Note im Aufsatz hat oder in Mathematik oder in Erdkunde. Es kommt doch vielmehr drauf an, mit wie viel Liebe man etwas tut und darauf zu achten, seine Aufgaben mit Liebe auszuführen“, brummelte Jolanta. Katharina biss nochmal in das Marmeladenbrot und nickte. „Wie schafft man es, solche Eisblumen ins Fenster zu zaubern? Mir gefallen diese Eisblumen so sehr. Noch nie im Leben habe ich schönere Blumen gesehen“, schwärmte Katharina.

„Sieh, das Leben sollte sein wie diese Eisblumen. Das sind ganz feine Kristalle. Kristalle sind das Symbol für die Liebe. Weil sie immer wieder das Licht zurückwerfen. Diese Fähigkeit endet nie. Und ein Kristall ist fest, er ist dauernd, nicht endend. So wie die Liebe und Freundschaft“, sinnierte Jolanta und nickte dann bekräftigend. „Auf meinem Grab möchte ich einmal Eisblumen haben“, fügte Jolanta an und schaukelte kräftig in dem Schaukelstuhl, in dem sie vor drei Jahren noch geschaukelt hat und in dem nun Katharina saß. Die junge Frau grinste bei dieser Erinnerung an ihre Kindheit. Seit jenem Adventmontag hielt die Freundschaft zwischen Jolanta und ihr. Jahrelang. Bis Jolanta vor drei Jahren starb. Katharina hatte damals Eisblumen auf Jolantas Grab gepflanzt. Eisblumen sind eine winterharte Züchtung von den beliebten Mittagsblumen. Sie blühen aber nicht im Winter. Und sie sind auch nicht so schön wie die Eisblumen am Fenster. „Es sind keine Kristalle“, sagte Katharina laut in die Stille.

Genau in dem Moment glaubte sie jemanden am Haus gehört zu haben. Sie stand auf, zog sich ihre Jacke über und ging nach draußen. Ein Mädchen stand vor der Gartenhütte und bestaunte die Eisblumen an den Fenstern. Sie sah niedergeschmettert aus. Genau wie sie vor zwanzig Jahren. Als ihr Jolanta erzählte, wofür die Eisblumen stehen, hatte Katharina nur geantwortet, dass es in ihrem Leben kein Glänzen gab. Dann sei du für die anderen eine Eisblume, sagte Jolanta damals. Das werde ich, nahm sich Katharina nun vor und bat das Mädchen in die Hütte, bestrich ihr ein Brot dick mit Marmelade und schenkte ihr eine Tasse heißen Kakao ein.

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