DIE FLUCHT Teil 10

Liebe Freunde, liebe Leser,

das ist der letzte Teil der Tagebucheintragungen eines jungen Mädchens während der Flucht und dem Leben in einem dänischen Internierungslager. Viel Spaß beim Lesen der letzten Zeilen der Erlebnisse während des zweiten WKs, ein Betirag von meiner lieben Feundin Margrit Vollertsen-Diewerge.

Inzwischen war ich vierzehn Jahre alt geworden und die Ereignisse rauschten nicht mehr so unbeachtet vorüber. Die Sehnsucht nach Deutschland und nach der Freiheit brannte immer stärker in mir, zumal so vielen Flüchtlingen die Rückreise in das Vaterland und zu ihren Lieben vergönnt war und wir fast bis zum Schluss warten mussten. Die Rückführung war ein Problem. Bis Herbst 1946 waren die Zonen für Flüchtlinge aus Dänemark gesperrt. Als dann die ersten Transporte gingen, wurden wieder Unterschiede gemacht. In eine Zone durften dann erst die Frauen zu ihren Männern in eine bestimmte Gegend, in eine andere Zone nur die kinderlosen Erwachsenen zu ihren Verwandten. Da nun noch so viele andere Lager bestanden, aus denen auch Leute mit durften, waren es oft nur zehn glückliche Personen aus Aalborg-Ost. Erst im letzten Jahr wurden größere Transporte von den Zonen zugelassen, so dass es sich schließlich im Lager bemerkbar machte. Die Menschen, die keine Unterkunft bei Verwandten nachweisen konnten, wurden von der französischen Zone aufgenommen. Am längsten mussten die Internierten warten, die nach Schleswig-Holstein wollten, und das war ein großer Teil. Die Flüchtlinge waren durch das lange Warten schon richtig nervös geworden. Immer wenn eine Anforderung eingetroffen war, hoffte jeder, dabei zu sein, und wurde immer wieder enttäuscht. Am schlimmsten waren die Gerüchte, die Parolen, wie sie genannt wurden. Wer sich um sie kümmerte und ihnen glaubte, konnte um den Verstand gebracht werden. Da hieß es zum Beispiel: „Übermorgen geht ein Transport mit Frauen zu ihren Männern nach Hannover. Frau Müller hat auf der Liste gelesen, dass Frau Meier aus der Baracke 6 drauf ist.“

Diese Nachricht erreichte dann über viele andere Personen, die noch einen ganzen Roman dazu gedichtet hatten, auch Frau Meier, die vor Freude und Glück gleich in Tränen ausbrach. Sie packte sofort ihre Sachen und brachte ihre Mitmenschen mit ihren Freudenausbrüchen in Unruhe, aber der Bescheid kam und kam nicht. Ein Tag nach dem anderen verging, Frau Meier saß auf ihren Gepäckstücken und wartete, aber vergebens. Das ging ein ganzes Jahr lang so. Die Enttäuschung war größer als die vorangegangene Freude. Die seelische Not übertraf bei weitem die leibliche.

Im ersten Jahr durfte niemand schreiben und mit seinen Verwandten in Briefverkehr treten. So quälte dann jeden die Ungewissheit, wer überhaupt noch am Leben war. Erst als der Briefverkehr aufgenommen wurde und die Suchaktion in Kraft trat, erhielten die meisten eine Aufklärung auf ihre Fragen. Wie viele hatten umsonst auf ihren Mann, ihr Kind oder einen lieben Menschen gehofft! Sie lagen irgendwo begraben oder waren verschollen. Einige von den Flüchtlingen, die umsonst gehofft hatten, verloren den Verstand und mussten in das Krankenhaus gebracht werden. Noch viel mehr bewirkte der Briefwechsel mit den Lieben. Die meisten von ihnen schrieben: „Wenn ihr doch nur erst daheim sein könntet, wir erwarten euch täglich mit brennender Ungeduld.“

Die Leute, die vom Lager nach Deutschland zurückgekehrt waren, fügten noch folgende Worte hinzu: „Wir weinen Dänemark keine Träne nach und wünschen, dass die Dänen mal am eigenen Leib erfahren, was es heißt, lange Zeit von den Verwandten getrennt zu sein und hinter Stacheldraht zu sitzen.“

Ich vertrete einen anderen Standpunkt. Ich weine dem Lande, in dem ich die schönsten Jahre meiner Kindheit verloren habe, auch keine Träne nach. Dennoch schied ich nicht mit einem Fluch von ihm und seinen Bewohnern. Ich meine, alle Flüchtlinge, die die Gastfreundschaft dieses Landes genossen haben, müssen ihm dankbar dafür sein, wenn die meisten auch viel Leid und Bitternis dort erfahren haben. Aber wer will behaupten, dass es uns allen in Deutschland in den ersten Nachkriegsjahren besser ergangen wäre als im Internierungslager? Dort wurde wenigstens regelmäßig für die Verpflegung gesorgt. Wir alle hatten ein Dach über dem Kopf, egal ob es gut oder schlecht war. Wie vielen Vertriebenen in Deutschland war das nicht vergönnt. Man kann zwar nicht sagen, dass es allen Internierten im Vaterland schlechter gegangen wäre. Aber es geschah nicht selten, dass ein Mann an seine Frau schrieb: „Du kannst nicht wieder zu mir kommen, da ich eine andere Frau gefunden habe.“ Viele Männer ließen ihre Familien erst zu sich kommen und stellten sie dann vor vollendete Tatsachen. So muss man zu dem Schluss gelangen, dass die Zeit im Lager zwar Gutes für einzelne brachte, aber für die meisten nur Kummer und Schmerz bereitete. Doch sollten diese Menschen nicht mit Verwünschungen und Flüchen an das Land und dessen Volk denken. Die Dänen haben viel für uns Flüchtlinge getan, was gut war.

Übersiedlung nach Schleswig-Holstein

Es war im Oktober 1948. Das Lager zählte nur noch zweitausendfünfhundert Insassen, als ich, aus der Schule kommend, von meiner Mutti mit der Nachricht empfangen wurde, dass wir nach Deutschland zurückkehren dürften. Endlich sollten wir die Freiheit genießen dürfen. Ich konnte es kaum fassen und dachte, Mutti wollte mich mit dieser Botschaft aufs Glatteis führen, denn das war ein Scherz, der überall bekannt war.

Aber ich musste mein Misstrauen bald aufgeben, denn Mutti und meine Geschwister hatten schon mit den Vorbereitungen begonnen. Alle Sachen wie Teller, Töpfe und Woll- und Papierdecken, die man uns gleich zu Beginn der Internierung in Aalborg-Ost leihweise gegeben hatte, mussten wieder in die Lagerverwaltung zurückgebracht werden. Kein dänisches Eigentum durfte über die Grenze mitgenommen werden. Um dies zu verhindern, wurde das große Gepäck einen Tag vor der Abfahrt von dem Lagerchef durchsucht und dann gleich zum Bahnhof nach Aalborg gefahren. Ich besuchte bis zum letzten Tag die Schule. Beim Abschied von den Lehrern und meinen Kameradinnen wurde mir das Herz schwer, ein Anflug von Traurigkeit drohte meine Freude zu verdrängen, aber nicht für lange. Die letzte Nacht konnten wir vor Aufregung und Reisefieber kaum schlafen. Am Montag sollten wir uns um 18 Uhr in der Werft einfinden. Am Morgen empfingen wir Verpflegung für die Fahrt bis Kolding. Dieser Tag wollte für uns gar nicht zur Neige gehen. Schon eine Stunde vor der festgesetzten Zeit hatten sich alle Abreisenden versammelt. Meine Freundin, die am Dienstag in die Französische Zone reisen sollte, und meine Tante gaben uns das Geleit. Es war nicht leicht, von diesen lieben Menschen Abschied zu nehmen. Doch es war wenig Zeit für lange Abschiedsreden, denn schon erschien der Lagerchef mit Begleitung und prüfte unser Handgepäck. Er war noch nicht damit zu Ende, als schon die Autos heranbrausten. Unter vielem Winken verließen wir die Werft, und der Schlagbaum senkte sich zum letzten Male hinter uns. In Aalborg wartete der Zug auf uns, der auch Flüchtlinge aus den benachbarten Lagern aufnahm. Es waren alles D-Zug-Wagen und sehr bequem. Um zehn Uhr brauste der Zug in die finstere regnerische Nacht hinaus. Wir kamen in einige Städte wie Aarhus und Fredericia, wo wir einen kurzen Aufenthalt hatten.

Ich hatte mir einen Platz auf dem Gang am Fenster gesichert, da der Krach im Abteil unerträglich war. Es gab auch so viel zum Nachdenken, so dass ich gerne alleine war. Am nächsten Vormittag erreichten wir dann das Durchgangslager Kolding. Hier blieben wir einen Tag, da die Papiere noch einmal geprüft und das große Gepäck geprüft wurden. Man hatte uns nach Aalborg immer geschrieben, dass die Dänen bei der Gepäckkontrolle so brutal wären und dass das Essen so furchtbar schlecht wäre. Aber diese Beschreibungen beruhten nicht auf Wahrheit. Nachdem wir reichliche Marschverpflegung erhalten hatten, ging die Reise um 21 Uhr weiter. Diesmal war es ein Zug aus Deutschland, da er sehr beschädigt und schmutzig war. Dann fuhren wir über die dänisch-deutsche Grenze.

Wie war es hier so öde und einsam! Man sah nichts weiter als Felder und Wiesen und ab und zu ein Bauernhaus. Leute, die gerade mit der Kartoffelernte beschäftigt waren, winkten uns mit einem Tuch die ersten Grüße auf deutschem Boden zu. Dann erblickten wir die ersten Häuser der Stadt Flensburg. Das erste, was uns auffiel, war der Unterschied zwischen den Menschen. Dort verrichteten halb verhungerte Männer ihre Arbeit, hier eilte eine auffallend elegante Frau vorüber. Im Lager hatten wir so einen gewaltigen Unterschied nicht gekannt. In Flensburg wurden die dänischen Posten, die uns bis hier begleitet hatten, von der deutschen Bahnpolizei abgelöst. Nachdem wir eine warme Milchsuppe bekommen hatten, wurde die Fahrt über Lübeck nach Poppendorf, dem Auffanglager, fortgesetzt. Es war einfach nicht zu glauben, dass noch ein solches Lager in Deutschland bestand. In allen Ecken hielten sich junge Leute auf, die um Brot und Zigaretten bettelten. Sie sahen zerlumpt und verkommen aus.

Von der Lagerverwaltung wurden uns Baracken zugewiesen, über deren Zustand ich lieber nichts schreiben möchte. Sie waren aus Wellblech und hatten große Löcher, durch die der Herbstwind pfiff. Holzbetten gab es nicht. Als Lager diente das Stroh, das eher als Dung bezeichnet werden muss. Die ganze Einrichtung bestand nur aus einem Tisch. Das grauenhafteste aber war, dass Ratten und Mäuse, die viel größer waren als gewöhnlich, auf dem Fußboden spielten und uns mit ihrem Lärm nicht zur Ruhe kommen ließen. Wir hatten Glück, dass wir nur eine Nacht in diesem „Stall“ verbringen mussten. Da wir eine Zuzugsgenehmigung hatten, durften wir am nächsten Tag weiterfahren.

Da wir ja nicht einen Pfennig in der Tasche hatten, bezahlte der Staat die Fahrt. Nun waren wir endlich frei und uns selbst überlassen. Der Gedanke daran erschien uns fremd, aber doch schön. Es war nicht leicht für uns, da wir dreieinhalb Jahre wie Gefangene gelebt hatten. Nun sollten wir mit allen Dingen in der Freiheit wieder schnell vertraut werden. In dieser Zeit waren wir scheu geworden und hatten Angst, uns in der Öffentlichkeit zu bewegen. In Hamburg hatten wir einen Aufenthalt von zwei Stunden. Was wir hier sahen, war aber zum größten Teil nicht erfreulich. Überall waren nur Trümmer. Als wir so verlassen auf dem Bahnhof standen, überfiel mich ein banges Gefühl und ich wollte am liebsten wieder zurück ins Lager Aalborg-Ost, wo mir alles so vertraut war. Aber als wir unserem Ziel immer näher kamen, steigerte sich die Freude, unseren Vater wiederzusehen. Am Nachmittag trafen wir endlich in Mühlenbarbek ein. Mein Vater hatte nicht gewusst, mit welchem Zug wir kommen würden. Er musste erst von der Arbeitsstelle geholt werden. Wir hatten ihn fünf Jahre nicht mehr gesehen, das Wiedersehen war unbeschreiblich schön. Alles, was wir jahrelang ersehnt hatten, ging jetzt in Erfüllung. Wir hatten eine neue Heimat, den Vater und die Freiheit wieder.

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