DIE FLUCHT Teil 9

Ein damls zehnjähriges Mädchen auf der Flucht im 2. Weltkrieg. In Dänemark kam sie in Internierungslager. In dem letzten Lager wurde es besser. Doch wie überall gibt es Mitmenschen, die anderen schaden. Neue Probleme enstehen. Die Leidtragenden sind wieder die anderen. Vor allem aber fehlte eins: die Freiheit.

Ein Gastbeitrag von meiner lieben Freundin und Journalistin Margrit Vollertsen-Diewerge

Viele Einrichtungen im Lager waren besonders lobenswert. So gab es eine eigene Küche für Säuglinge und Kleinkinder. Ihr Essen war schmackhaft und nahrhaft zubereitet. Mütter mit Säuglingen wurden in besonderen Baracken untergebracht, damit sie den Stubengenossen nicht die Nachtruhe raubten. Ebenso gründete man Altersheime, die freundlich und bequem eingerichtet waren. Krankenschwestern betreuten die Alten liebevoll und halfen den Hinterbliebenen über die Bitternis dieser schweren Zeit hinweg. Auch für die noch nicht schulpflichtigen Kinder wurde gesorgt. Es wurden Kindergärten errichtet und stellte sie unter die Aufsicht netter junger Mädchen. Sie hatten ihre eigenen Spielplätze und veranstalteten Feste, für deren Gelingen die dänischen Lagerchefs viel beitrugen.

Besonders gute Maßnahmen wurden auf dem Gebiet der Gesundheit und der Krankenpflege getroffen. Jeder Block bekam eine Krankenschwester zugewiesen, die kleine Verletzungen behandelte. Sie verteilte jeden zweiten Tag für die Kinder Lebertran, und auch sonst war sie als Beraterin tätig. Bei ernsteren Fällen konnte man den zuständigen Arzt in dessen Sprechstunden aufsuchen. Sein Wirkungskreis war allerdings sehr groß. Er konnte seine Patienten aber auch in das Krankenhaus von Aalborg einweisen, in die Abteilung für Deutsche. Wenn er sie behandelte, wurden sie in die Krankenbaracken im Lager eingeliefert. Wie war das alles anders als im Lager Hövelte! Niemand starb mehr an Typhus oder an Unterernährung. Um die Krankheiten gar nicht erst zum Ausbruch kommen zu lassen, fanden regelmäßig Untersuchungen und Impfungen statt. Für schwächliche Kinder gab es Präparate vom Arzt und von der Küche Zusatzverpflegung: Eier, Vollmilch und Butter. So viele Sterbefälle wie in Hövelte an einem Tag waren in Aalborg Ost nur in einigen Monaten zu verzeichnen. Die Leichen wurden auf dem Friedhof in einer Ecke beigesetzt. Die Verwandten durften die Gräber an bestimmten Tagen besuchen. Die Särge wurden in der Lagertischlerei angefertigt, die Blumen lieferte die Gärtnerei, denn das Lager hatte seine eigenen Werkstätten und Handwerker.

Aber es sind noch wichtigere Einrichtungen da, zum Beispiel das Schulwesen. Als Schulgebäude diente uns die Werft, in der ehemals die deutschen Flugzeuge untergebracht waren. Unsere Klassenräume lagen an den Seiten der Werfthalle, die früher vom deutschen Militär als Wohnräume benutzt worden waren.

In den ersten drei Monaten bestand nur die Volksschule, im August 1945 wurde dann die Oberschule eröffnet. Nach einer mündlichen und einer schriftlichen Prüfung wurden auch Schüler aus der Volksschule aufgenommen. Meine Mutti schickte mich auch auf diese Schule, denn meine Eltern waren schon früher überein gekommen, mich zur Höheren Schule nach Königsberg zu schicken. Ich war schon angemeldet, aber durch die Flucht kam alles anders. In der ersten Zeit hatte eine Klasse im Lager fast vierzig Schüler, obwohl es auch
Parallelklassen gab. Im letzten Jahr sank die Schülerzahl, da laufend Transporte nach Deutschland gingen.

Die Lehrerschaft bestand aus Doktoren, Studienräten, Studiendirektoren und Volksschullehrern. Sie wechselten oft, da etliche abfuhren und andere aus anderen Lagern hinzu kamen. Einmal befand sich auch ein Professor darunter, der vor der Internierung in Dänemark an der Berliner Universität angestellt war. Er hatte nur Erfahrung mit Studenten gehabt und gestaltete seinen Unterrichtsstoff in Geschichte, welches sein Spezialfach war, in Vorlesungen. Uns war diese Art des Unterrichts völlig fremd, wir verstanden ihn nicht und ärgerten ihn bei jeder Gelegenheit, was das Lernen nicht gerade einfacher machte. Sonst herrschte in der Schule strenge Zucht und Ordnung. Wer sich den Anordnungen nicht fügen wollte, musste die Schule verlassen. Wir hatten regelmäßig fünf Stunden Unterricht pro Tag. Im Winter erhielten wir manchmal Kälteferien wegen Kohlenmangel. Sonst richteten sich die Ferien nach denen in Deutschland. Lehrbücher wurden eigens für die Flüchtlinge in Kopenhagen gedruckt. Auch Papier und Bleistifte erhielten wir von dort. Natürlich war alles sehr knapp bemessen, was uns zwang, mehr mündlich als schriftlich zu arbeiten. Um uns mehr Freude und Abwechslung in der Schule zu bieten, durften wir Elternabende veranstalten, die immer sehr gut gelangen und viel Beifall erhielten. Jedes Jahr fand ein großes Schulsportfest statt, zu dem auch Schulen aus den benachbarten Lagern eingeladen wurden. Die Sieger bei den Wettkämpfen wurden durch wertvolle Preise, manchmal sogar Kleidung, ausgezeichnet, alle übrigen mussten sich mit Trostpreisen zufrieden geben. Wir freuten uns schon unbändig auf solche Feste, sie brachten so viel Schönes und Angenehmes mit sich. Zur Ergänzung des Unterrichts fanden zweimal im Monat Kulturfilm- Veranstaltungen statt. Daneben hielten die Lehrer Vorträge über Dichter oder andere berühmte Persönlichkeiten. Man gab sich alle erdenkliche Mühe, uns das Lernen zu erleichtern, uns aber trotzdem zu anständigen Menschen zu erziehen. Die Oberschule von Aalborg-Ost war die beste in allen Flüchtlingslagern. Sie hatte die beste Lehrerschaft und auch die besten Lehrmittel. Schüler, die ihre Schulzeit beendet hatten, konnten auch das Abitur machen. Aus vielen Lagern kamen sie, um die Prüfung abzulegen. Eine ganze Woche lang wurden Prüfungsarbeiten geschrieben. Im Beisein von den drei dänischen Lagerchefs, dem Schulrat und führenden Männern von der Flüchtlingsverwaltung in Kopenhagen fand dann die mündliche Prüfung statt. Dieser Tag war immer sehr bedeutend für uns Oberschüler. Nach Beendigung der Feierlichkeiten sang der Chor der Schule den Abiturienten ein Ehrenlied, und dann brachten wir sie unter lautem Jubel und Hurra in ihre Baracken. Sie haben alle ihre Prüfung bestanden, die Urkunde und das Zeugnis haben auch in Deutschland Gültigkeit. Das gesamte Schulwesen in allen Internierungslagern unterstand dem Schulausschuss in der Flüchtlingsverwaltung in Kopenhagen. Er schrieb den Lehrern das Pensum vor, das geschafft werden musste, und bestimmte auch die Ferien. Eine Kommission wurde des öfteren in die einzelnen Lager entsandt, um sich über die Schulverhältnisse zu informieren.

In den letzten zwei Jahren entwickelte sich neben der Volks- und Oberschule noch die Berufsschule für Jungen und Mädel. An ihr waren ausschließlich Fachkräfte tätig. Durch die Einrichtung hatte man vieles erreicht. Die jungen Menschen wurden weitergebildet, da ja die meisten durch den Krieg und die Flucht vieles versäumt hatten, und sie hatten auch eine Beschäftigung und Pflichten zu erfüllen.

Noch viel mehr wurde auf dem Gebiet der Unterhaltung für die Erwachsenen geleistet. Viele Flüchtlinge verstanden es meisterhaft, sich und ihre Mitmenschen mit viel Schwung und Humor hinweg zu bringen, wobei aber nicht vergessen werden darf, dass dies nur durch die Unterstützung der dänischen Flüchtlingsverwaltung möglich war. Es musste ja auch etwas unternommen werden, was die Erwachsenen aus ihren trüben Gedanken riss. Dieses wurde in erster Linie durch die Filme erzielt. Jeden Tag fanden zwei Vorführungen in dem großen Kinosaal statt, der mehr als fünfhundert Personen fasste, und jede Woche wechselte der Film.

Es hatte jeder Lagerinsasse die Möglichkeit, ihn zu sehen, da die Eintrittskarten von den Barackenältesten verteilt wurden. Deutsche männliche und weibliche Lagerwache, die im Lager für Ordnung zu sorgen hatte, achtete darauf, dass nach 23 Uhr im Sommer und nach 22 Uhr im Winter kein Licht mehr in den Stuben brannte und sich niemand mehr nach dieser Zeit auf der Straße aufhielt. Sie stand regelmäßig am Eingang und ließ nur die hinein, die sich mit dem Impfschein ausweisen konnten, denn Jugendlichen unter 16 Jahren war der Eintritt streng verboten.

Diese Verordnung war nun durchaus nicht willkommen und die, welche sie betraf, versuchten mit allen Mitteln, trotz des Verbots hinein zu kommen. Sie fälschten zum Beispiel das Geburtsdatum oder liehen sich Impfscheine von Jugendlichen über 16 Jahre. Wurden sie bei diesen unrechtmäßigen Handlungen erwischt, was häufig der Fall war, dann entzog man ihnen für drei Tage die Kaltverpflegung oder sie erhielten für dieselbe Zeit Arrest. Um nun nicht ausschließlich auf das Kino angewiesen zu sein, bildeten sich aus der Menge der Flüchtlinge kleine Theatergruppen, die ständig an Zahl und Leistung wuchsen. Ihre Mitglieder waren zum größten Teil Laien, aber auch viele Berufsschauspieler waren darunter, die das Schicksal ebenfalls ins Lager verschlagen hatte. Die Theatergruppen, von denen in Aalborg-Ost drei bestanden, hatten ständig mit materiellen Schwierigkeiten zu kämpfen. Sie verzagten aber nicht, und allmählich verbesserte sich ihre Lage. Die Kostüme wurden in der Lagerschneiderei angefertigt oder kamen ebenso wie die Perücken aus Aalborg. Diese Künstlergruppen entwickelten sich unter Mithilfe aller Lagerinsassen und der Lagerleitung so gut, dass sie sich mit einer Bühne einer Klein- und Mittelstadt messen konnten. Die Lagerverwaltung ließ eigens für Theaterzwecke einen Saal bauen, der aber abbrannte und wieder neu errichtet wurde. Von dieser Wiedereröffnung der Bunten Bühne in Aalborg-Ost III erschien ein Bericht in der Zeitung „Deutsche Nachrichten“, die von der Flüchtlingsbetreuungsstelle in Kopenhagen für die Lager herausgegeben wurde und uns über die Zeitgeschehnisse auf jedem Gebiet unterrichtete.

Der Stoff zu den Veranstaltungen beschränkte sich nicht allein auf Lustspiele, sondern es gelangten auch Dramen zur Aufführung. Am beliebtesten war aber das Varieté. Das war verständlich, denn die meisten der Flüchtlinge zogen diese Art der Unterhaltung vor, da das Lagerleben schon tragisch genug war und diese zwei Stunden mit viel Humor, Witz und Schwung sie alles Unangenehme vergessen ließen.

Um den Jugendlichen mehr Abwechslung zu bieten, veranstaltete man zweimal im Monat Tanzabende. Hierzu wurden Eintrittskarten ausgegeben, denn der Saal war für alle zu klein. Zu großen Festlichkeiten verwandelte sich auch die Werkhalle zu einem Tanzsaal. Zu diesen Festen zählten zuerst die Sportfeste. Die Jungens und Mädels hatten Vereine gegründet und trugen ihre Wettkämpfe aus, zu denen zweimal im Jahr auch Vereine aus anderen Lagern eingeladen wurden.

Aber trotz all dieser Einrichtungen, so gut sie auch waren, konnte damit bei den meisten Flüchtlingen keine Freude aufkommen. Es fehlte die Freiheit! Wie uns zumute war, als wir dreieinhalb Jahre hinter Stacheldraht festgehalten wurden, kann sich keiner vorstellen. Wenn wir die Baracken verließen, fiel unser Blick sofort auf den Zaun, der uns von der Außenwelt abschloss. Es war, als träfe ein Dolchstoß unser Herz. Wir sahen die dänischen Bauern ihren Acker bestellen, die Kinder herum tollen, die schönen Häuser und die herrliche Landschaft jenseits des Lim-Fjords. Die Welt war so groß und schön, und wir mussten mit so vielen tausend Menschen zusammen gepfercht auf einem Haufen in diesen elenden Wohnungen leben.

Aalborg-Ost hatte eine Ausdehnung, dass man es auf einem Spaziergang ungefähr in einer Stunde umgangen hatte. An schönen Sonntagen war die Hauptstraße übersät von Menschen, die sich aus den dumpfen Stuben ans Licht gewagt hatten. Die Hauptstraße führte auch nach anderen Orten und wurde deshalb auch rege befahren. An beiden Enden, wo das Lager begann und aufhörte, war ein Schlagbaum, der ständig von dänischen Soldaten bewacht wurde. Außerdem machten Posten jede zwei Stunden eine Runde um das Lager. Und doch konnten sie nicht genug aufpassen, besonders in der ersten Zeit. Viele deutsche Frauen versuchten immer wieder, durch den Stacheldrahtzaun zu schlüpfen, um zu ihren dänischen Freunden, die sie beim Bau der Baracken kennengelernt hatten, zu gelangen. Ihnen war kein Hindernis zu schwer, denn es machte sich bezahlt. Sie brachten immer große Pakete mit Esswaren mit und gelangten sogar in den Besitz von Obst und Süßigkeiten, was die übrigen Lagerinsassen nicht zu sehen, geschweige denn zu essen bekamen. Wenn von diesen Frauen eine geschnappt wurde, erhielt sie vier Wochen Arrest, und wenn das nichts half, wurde sie in ein anderes Lager versetzt. Wegen dieser Frauen, die kein Ehrgefühl besaßen, büßten alle deutschen Frauen in den Augen der dänischen Bevölkerung viel von ihrer Ehre ein.

Aber diesen verrufenen Weibern ging das keineswegs zu Herzen. Dieses Übertreten von Vorschriften hatte auch noch andere Schattenseiten. Es erblickten viele Kinder das Licht der Welt, deren Vater ein Däne und deren Mutter eine Deutsche war. Wenn diese Frauen dann zu ihrem Ehemann nach Deutschland zurückkehren konnten, ließen sie die Kinder bei Pflegeeltern oder im Krankenhaus zurück. Nur wenige, bei denen sich der mütterliche Instinkt regte, brachten den Mut auf, mit dem Kleinen ihrem Ehepartner gegenüber zu treten. Immer wieder nutzten diese Mädchen und Frauen jede Gelegenheit aus, um das Lager zu verlassen. Hierzu ein Beispiel. Als im ersten Jahr die Leute, die ihre Verwandten im Aalborger Krankenhaus besuchen wollten, den Weg noch zu Fuß zurücklegen mussten, geschah es nicht selten, dass sich Frauen von der Gruppe entfernten und erst wieder in der Nacht zurückkehrten. Nur diese Frauen waren allein daran Schuld, dass die Flüchtlinge keinen Ausgang erhielten. Erst in den letzten eineinhalb Jahren trat eine Lockerung ein. Die Schulen durften den Zoo in Aalborg und die Kalkgruben der Zementfabrik besichtigen. Was für eine Freude uns diese Besuche bereiteten, kann ich nicht beschreiben. Schon Tage vorher liefen wir Kinder wie von Bienen gestochen herum und waren nicht mehr mit den Gedanken beim Unterricht. Besonders viel Spaß brachten uns die Ausflüge zum Limfjord. Unter Aufsicht unserer Lehrer verbrachten wir den ganzen Vormittag am Wasser, fern von dem öden Barackenmeer hinter Stacheldraht. Ja, wir durften sogar fünfzig Meter weit ins Wasser und baden! Hier konnten wir noch einmal wirklich Kinder sein. Auf den Straßen durften wir nicht spielen, und an den Baracken war zu wenig Platz. Wir waren es von zu Hause gewohnt, im Wald und in den Wiesen zu spielen, und nun mussten wir eingesperrt leben.

Ich war zehn Jahre alt, als unsere Internierungszeit begann, und machte mir wenig Gedanken über die Zustände im Lager und was es hieß, der Freiheit beraubt zu sein. Ich fand nette Freundinnen und wir verbrachten für unsere Begriffe schöne Zeiten mit Puppenspielen. Natürlich hatten wir keine richtigen Puppen, sondern nur solche aus Papier zum Anziehen, aber das war kein Hindernis. Schließlich aber widmete ich mich ausschließlich dem Lesen. Im letzten Jahr kam dann aus einem anderen Lager ein Mädchen in meine Klasse, mit dem ich sofort Freundschaft schloss, wir waren wie Geschwister………

Fortsetzung folgt

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