Ein Gastbeitrag von meiner Freundin Margrit Vollertsen-Diewerge, aus dem Tagebuch eines damals neunjährigen
Mädchens.

Allmählich waren die Füße mit Blasen übersät, wir kamen kaum noch weiter. Aber was für ein Bild bot sich uns, als wir zum ersten Mal nach der Stelle zurück blickten, von der wir unsere Wanderung begonnen hatten. Große dunkle
Rauchwolken wälzten sich aufs Meer hinaus, helle Flammen loderten in den blauen Frühlingshimmel. Alle Dörfer, in denen sich die wilden Kämpfe abgespielt hatten, brannten lichterloh. Immer näher rückte der Feind, immer
häufiger schlugen Granaten neben uns ein. Je weiter die Zeit voran schritt, desto langsamer ging es vorwärts. Meine
jüngste Schwester war schon so ermattet, dass sie abwechselnd von Mutti und meiner älteren Schwester getragen werden musste. Immer mühsamer wurde das Weitergehen. Wir hätten uns am liebsten hingesetzt und wären nicht
wieder aufgestanden. Aber der Gedanke an die Russen trieb uns vorwärts und ließ uns nicht verzagen. Am späten Abend gelangten wir in einen Wald, wo wir die Nacht verbringen wollten. Fast hinter jedem Baum war ein Geschütz oder ein Auto aufgefahren.
Ein Soldat, der sich in Rothenen mit der Tochter unserer Nachbarn verlobt hatte, war bis hier mitgekommen und sorgte für eine Unterkunft. Meine Mutti und die kleinen Geschwister schliefen in einem Wagen und wir anderen auf
einem Aussichtsturm. Am nächsten Morgen stieg ich als erste hinunter. Ich hatte erst die Hälfte der Treppe hinter mir, als eine Bombe platzte. Im gleichen Augenblick spürte ich einen stechenden Schmerz in meiner Wade. Ich wusste
nicht, ob mein Bein von einem Splitter gestreift worden war, aber als ich das Blut sah, begann ich zu weinen, obwohl die Verletzung gar nicht so schlimm war.
Nun fielen die Bomben in gleichen Abständen, und als ich nicht wusste wohin, nahm mich ein Soldat in einen Bunker mit. Aber immer, wenn ich zu Mutti wollte, krachte es und ich kam nur bis zum nächsten Bunker und immer
weiter von meiner Familie weg. Nach mühevollem Suchen fanden sie mich endlich. Die deutschen Truppen, die sich schon für die Verteidigung des Waldes vorbereiteten, rieten uns, nur schnell weiter zu ziehen, denn die
Feinde würden noch am selben Tage kommen. Wir begaben uns auch gleich zum Strand und erreichten noch am Nachmittag die Vorstadt von Pillau. Zum Hafen wurde niemand gelassen, da er ständig
unter Beschuss lag.
In dem Wald, der sich vor der Stadt ausdehnte, blieben wir, bis die Dämmerung herein brach, denn nur im Dunkeln wurden Flüchtlinge übergesetzt. Stunde um Stunde verrann, bis wir endlich auf eine Fähre kamen, die Menschenmenge war einfach zu groß. Auch hier zeigte sich wieder die Rücksichtslosigkeit der Leute, mit der sie versuchten, andere zurückzudrängen. Oft entstanden daraus auch Schlägereien. Jeder glaubte, er habe besondere Rechte, wenn er ein kleines Kind, eine alte Mutter oder eine Verwundung hatte. Ein geregelter Ablauf konnte nur durch die Feldgendarmerie hergestellt werden. In Neutief, auf der Frischen Nehrung, konnten wir die Fähre verlassen und waren froh, wieder Land unter den Füßen zu haben. Kein Stern, kein Mondlicht erhellte die Nacht, aber umso schrecklicher war der rot glühende Himmel. Wie Gespenster glitten die Boote über die unheimlich schimmernde Wasserfläche. Früher hatten lustige und frohe Menschen in den Booten gesessen, jetzt waren es nur ängstliche, hungernde und verschreckte Leute, die bei jedem Geräusch zusammen zuckten.
In Neutief sagte man uns, es wären nur fünfhundert Meter bis zu dem Ort, wo wir verschifft würden. Wir wanderten die ganze Nacht und kamen doch nicht zu der bezeichneten Stelle. Der Schlaf übermannte uns, der Wald bot uns die beste Ruhestätte. Am Morgen reihten wir uns nach einem kargen Frühstück wieder in die Kolonne der Flüchtlinge ein. Selten sahen wir ein Haus oder gar ein Dorf. Herrlich war die Landschaft und der Blick auf die See, aber wir hatten kein Auge dafür. Immer qualvoller wurde das Gehen. So schleppten wir uns müde und erschöpft weiter, denn zum Ausruhen war
keine Zeit.
Am Nachmittag hatten wir schon 25 Kilometer zurückgelegt, aber noch immer nicht das Ziel erreicht.Von einem Kilometerstein – in Kilometer hatte man die Hauptstraße auf der Nehrung eingeteilt – zum nächsten wurden Frauen und
Kinder streckenweise transportiert. Auch wir waren unter den Glücklichen. Wieder brach die Nacht herein, und wir mussten auf der Erde unter einem Baum schlafen. Wir legten uns alle auf einen Haufen, um uns gegenseitig
zu wärmen, denn die Aprilnächte sind in Ostpreußen noch recht kalt. Dabei regnete es in Strömen und durchnässte unsere Kleider bis auf die Haut.
Nachdem uns die Soldaten am Morgen in ihrer Feldküche eine Tasse Kaffee gekocht hatten, setzten wir unseren Marsch fort. Am Nachmittag kamen wir in Stutthof, einem Durchgangslager, an. Riesengroße Steinbauten mit
vergitterten Fenstern und eine anekelnde Unsauberkeit empfingen uns. In diesem Lager hatten noch bis vor kurzem viele KZ-Häftlinge die fürchterlichsten Qualen erleiden müssen. Auch jetzt befanden sich noch Gefangene hinter den Mauern, aber es waren nur Ausländer, die nicht so schrecklich behandelt wurden.
Zertrümmert lagen die Fabrikgebäude dicht aneinander gereiht. Sie allein waren die einzigen Plätze, auf denen wir Flüchtlinge zusammengepfercht auf nacktem Zementfußboden und auf Pferdedung liegen konnten. Eine
Lagerverwaltung oder sonst eine Ordnung bestand nicht. Die deutschen Soldaten kochten zwar in ihren Feldküchen für uns Zivilisten, aber damit konnten nur wenige gesättigt werden. An den Verpflegungsausgabestellen
standen die Menschen Schlange, und wenn man viele Stunden in Sturm und Regen ausgeharrt hatte und dann mit wenig Brot und noch weniger Butter bedacht wurde, konnte man sich glücklich schätzen.
Aber der Hunger quälte und der Magen schmerzte, und so trieb uns die Not, erfrorene Steckrüben zu essen. Das aber erwies sich bald als ungesund, denn die Magenschmerzen nahmen zu. Fünf Tage verbrachten wir so, doch dann
kam die Reihe an uns, mit der Kleinbahn nach Nikelswalde gefahren zu werden. Hier herrschte, wie an jeder Verladestelle, furchtbares Gedränge. Klagen und Schreie erfüllen die Luft. Oft musste die Überfahrt unterbrochen
werden, da die Flugzeuge das Feuer eröffneten. Dann stob die Menschenmenge wie Funken auseinander und suchte unter den Bäumen oder in den Ruinen Schutz.
Nach einem solchen Angriff waren wir die ersten am Strand und gelangten sofort auf einen Prahm. Summen und dumpfe Geräusche erfüllten die kühle Nachtluft. Wir zitterten, wenn wieder eine Leuchtbombe wie ein strahlender
Weihnachtsbaum am Himmel erschien und sich im Wasser widerspiegelte. Um Mitternacht wurden wir auf der Halbinsel Hela ausgeladen. Zwischen Schuttbergen ragten noch hier und da Reste von Häusern empor, die aber
bei der geringsten Erschütterung umzufallen drohten. Wie ausgestorben lag die Halbinsel da, die Bewohner waren schon vor Monaten evakuiert worden. Das Militär hatte die Gegend um den Kriegshafen besetzt.
Die andere Hälfte um den Fischereihafen wurde von den Flüchtlingen eingenommen
Fortsetzung folgt.