DIE FLUCHT Teil 3

Meine liebe Freundin, die Autorin Margrit Vollertsen-Diewerge hat diese Aufzeichnungen eines damlas 9-jährigen Mädchens vererbt bekommen. Ihr Wunsch: Diese Erlebnisse dürfen nicht in Vergessenheit geraten.

Hier nun der dritte Teil des Tagebuchs:

Die Angst raubte den Menschen den Verstand. Sie sahen nicht, wo sie hintraten oder was sie taten. Die kleinen Kinder wurden so gedrückt, dass sie kaum Luft bekamen.

Mutti hatte meine kleine Schwester auf dem Arm, wir anderen hielten uns bei der Hand. So standen wir und ließen uns sozusagen ruckweise nach vorne schieben. Das Schreien der Kinder übertönte das Krachen der Granaten. Wir zitterten zwar, aber ein Laut kam nicht über unsere Lippen. Mutti war uns ein gutes Beispiel. Sie hat nie ein Wort über Furcht gesprochen, und das beruhigte uns. Nur einen Wunsch hatte sie: Wenn es sein sollte, dann gleich
alle sieben auf einmal, nur nicht einen verlieren.

Im Keller war wenig Platz, und wir mussten auf Steckrüben liegen, die wir auch aßen. Die Feinde waren nur siebenhundert Meter von uns entfernt und wussten, dass sich so viele Menschen dort aufhielten. Deshalb eröffneten
sie das Feuer auf das Herrenhaus.

Nachts um elf sagten uns die deutschen Soldaten, dass sie das Gut nicht mehr lange verteidigen könnten und dass wir deshalb versuchen sollten, schnellstens aus der Kampflinie herauszukommen. Ganz leise schlichen wir zum Wagen.
Was für ein Bild bot uns die eisig kalte, sternklare Winternacht! Die Dörfer ringsumher standen in hellen Flammen. Leuchtraketen zischten durch die Luft und eine marternde Spannung lag über dem Ganzen.

Wir sollten so leise wie möglich fahren, aber das ging nicht. Der gefrorene Schnee knirschte unter der Last, dass es weithin vernehmbar war. Der Weg führte bergab, und wir mussten die glatte Straße zu Fuß hinunter laufen.
Plötzlich flog eine Rakete unmittelbar an uns vorbei, und wir sprangen in einen Graben, um Deckung zu suchen. Die Soldaten sagten uns, dass die Russen Schritt für Schritt vorrückten und dass es ein Wunder wäre, wenn
wir aus dieser Hölle heraus kämen.

Am nächsten Vormittag fanden wir endlich in einem Ort, der noch nicht zerstört war, eine Unterkunft. Wie uns am Abend die zurückgeschlagenen Kämpfer gesagt hatten, war das Gut gleich am Morgen von den Gegnern erobert worden. Viele Soldaten und Zivilisten waren tot. Wir waren überglücklich, diesem Unglück entronnen zu sein. Auf der nächsten Station lagen wir wieder unter Artilleriebeschuss, aber nur für kurze Zeit. Wir gelangten über Großkuhren,
Rauschen und Sorgenau nach Rothenen, wo wir bleiben mussten, da der Hafen von Pillau überfüllt war. Nach vierwöchiger, beschwerlicher Wagenfahrt konnten wir endlich befreit aufatmen.

Rothenen war ein großes Fischerdorf an der Ostsee. Die Häuser waren schon alle mit Flüchtlingen belegt, und so wurde uns ein Klassenzimmer in einer Schule zugewiesen. In einer Ecke lag Stroh zum Schlafen, am Tag diente es
zusammengerollt als Sitzgelegenheit. Die Lehrerfamilie hatte Ostpreußen schon verlassen, und wir konnten tun und lassen, was wir wollten. Nun fanden wir endlich Zeit und Ruhe, uns als Mensch zu fühlen. Wie angenehm war das
erste Bad nach vier Wochen. Hier wurden auch für uns Lebensmittelkarten ausgegeben, mit denen man einkaufen konnte.

Besonders anziehend war Rothenen wegen der Lage an der See. Gleich am ersten Sonntag unternahmen wir einen Spaziergang dorthin, überwältigend, bezaubernd war der Anblick. Die schwarze Wasserfläche bewegte sich leicht,
tiefblau war der Himmel. Am Strand mussten wir über hohe Schneeberge klettern, und plötzlich wollte das Herz vor Entsetzen aussetzen.

FORTSETZUNG FOLGT

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