Was sein muss

Karina genoss es, in ihrer warmen Bettdecke eingehüllt, aus dem Fenster zu schauen und das Schneegestöber zu beobachten. Wie wild tanzten die Flocken umher, wurden vom Wind nach oben getrieben, fielen wieder nach unten und landeten überall, wo es Landefläche gab. Auf den Dächern, auf dem Apfelbaum, auf dem Zaun, auf dem Nistkasten und auf dem Fensterbrett. Karina streckte sich und gähnte. Wann hatte sie das letzte Mal so gemütlich wach werden dürfen? Sie hörte Schritte im Flur. Ihre Eltern waren aufgestanden. Jetzt würde es nicht mehr lange dauern. Sie zählte in Gedanken bis zehn. Als sie bei der Sieben angekommen war, rief ihre Mutter. „Karina, aufstehen. Es gibt Frühstück. Du musst deine Vitamine essen, damit du gesund bleibst.“ Karina verzog den Mund. Jeden Tag Müsli, mit Äpfel, Kiwi, Orangen. Es hing ihr zum Hals heraus. Wie gerne hätte sie ein Stück Käsekuchen gegessen oder ein Stück Sahnetorte. Das gab es bei ihrer Freundin sonntags zum Frühstück und am Nachmittag zum Kaffee.

Karina beschloss, die Anweisung zu ignorieren, zog ihre Bettdecke höher und beobachtete weiterhin das Schneegestöber. Eine Amsel landete auf einem Ast, pickte an dem dort noch hängenden Apfel. Sie hatte Hunger, nach der bitterkalten Nacht. Sie hatte es gut, sie konnte davon fliegen, wann immer sie wollte. „Karina, ich erwarte dich am Frühstückstisch. Die Regeln gelten auch für dich. Du musst lernen, dich daran zu halten“, rief ihre Mutter. Karina schloss die Augen. „Ich werde lernen, mich zu widersetzen“, flüsterte Karina und beobachtete weiter die Amsel, zu der sich nun in einiger Entfernung eine Blaumeise gesellte.

Als sie die energischen Schritte ihrer Mutter hörte, zog Karina die Bettdecke über den Kopf. Kurz darauf wurde die Decke von ihrer Mutter zurückgezogen. „Was ist los, mein Kind? Habe ich mich nicht verständlich ausgedrückt? Bist du etwa krank? Umso mehr Grund, deine Vitamine zu essen und heute Nachmittag einen ausgedehnten Spaziergang an frischer Luft zu unternehmen. Außerdem musst du noch dein Musikstück üben. Ich habe dich die ganze Woche noch nicht am Klavier gehört.“

Schweigend schaute Karina ihre Mutter an. „Du musst aufstehen, Mädchen“, antwortete sie auf Karinas Reaktion. Das nahm Karina als Anlass, sich wieder hinzulegen und ihrer Mutter den Rücken zuzudrehen.

„Jetzt reicht es mir, mit deinem aufmüpfigen Verhalten. Da stellt man sich stundenlang in die Küche, um ein gesundes Frühstück zu bereiten, bezahlt teuren Musikunterricht und der Dank dafür ist, dass man völlig ignoriert wird. Steh nun auf, du musst heute noch genug erledigen. Und die Spülmaschine musst du ebenfalls ausräumen. Am Wochenende bist du dran, vergiss das nicht.“ Verärgert zog Karinas Mutter die Tür zu und ging wieder ins Esszimmer.

Karina beobachtete noch einige Minuten die Amseln. Sie hatten es gut. Niemand flog ihnen hinterher, um zu sagen, was sie tun mussten. Dann stand Karina auf, holte ein Blatt aus ihrer Schultasche, ging damit ins Esszimmer und legte es auf den Tisch. „Das musst du unterschreiben“, sagte Karina, setzte sich auf ihren Platz und stocherte mit dem Löffel in dem Müsli herum. „Du musst die Äpfel kleiner schneiden. Außerdem müsst ihr nicht überall das Licht eingeschaltet lassen. Das kostet unnötig Strom. Und du musst nicht so viel Kaffee trinken. Das ist ungesund, habe ich erst gestern wieder gelesen.“

Karinas Mutter stellte ihre Tasse zurück auf den Tisch und schaute verwundert zu ihrer Tochter. „Wie redest du mit uns?“, fragte Karinas Mutter. Karina schnaubte, stand wortlos auf, zog ihren Parka an und verließ die Wohnung. Als ihr Vater folgte, war Karina schon verschwunden. „Das hast du nun davon. Hättest du sie doch einmal ausschlafen lassen“, schimpfte Karinas Vater mit seiner Frau. „Du musstest ihr zu viele Freiheiten geben, deshalb ist sie so aufmüpfig geworden“, konterte Karinas Mutter. Als Karina wieder in die Wohnung kam, stritten ihre Eltern immer noch.

Karina packte ihren Einkauf aus und stellte ein paar Kuchen- und Tortenstücke auf den Tisch. „Ihr müsst mir nicht immer sagen, was ich tun muss. Ich bin fast volljährig und alt genug, zu entscheiden, was mir gut tut. Nicht immer muss. Das drückt so runter. Ich weiß, ihr habt es so gelernt, denkt euch nichts dabei und meint es gut, aber jeder kennt doch seine Pflichten. Man muss gar nichts dazu sagen und wenn, dann geht es auch anders. So zum Beispiel: Es wäre schön, wenn wir heute einmal ein Stück Torte essen könnten. Greift zu“, sagte Karina, nahm sich das Stück Käsekuchen und schob das gesunde Müsli beiseite.

„Das muss aber die Ausnahme …:“ Weiter kam ihre Mutter nicht. „Es wäre schön, wenn wir immer wieder solche Ausnahmen hätten“, lachte Karinas Vater und griff nach dem Stück Schokosahnetorte.

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