„Spieglein, Spieglein…“

„Steht eine etwas beleibte Frau vorm Spiegel und sagt: „Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?“ Der Spiegel: „Geh mal zur Seite, ich sehe ja nichts!“ Das Publikum lachte und klatschte wie verrückt. Elisabeth schüttelte den Kopf, nahm die Fernbedienung in die Hand und schaltete auf das nächste Programm, während sie ihre Papierschnipsel nach Farben sortierte. Eigentlich wollte sie eine Collage erstellen. Wollte die Landschaft aus der Vogelperspektive darstellen, um so aufzuzeigen, dass eben nicht alles in exakt geraden Linien verläuft, die Landschaft eher ein buntes Farben- und Formenspiel ist. Sie nahm den grünfarbigen Papierschnipsel in die Hand, um mit der Wiese zu beginnen. Wo sollte sie in der Landschaft wachsen?

Der Comedian war fertig, das Publikum befriedigt. Tosender Applaus für den Possenreißer, der sich nun von der Bühne verabschiedete. Seine Darbietungen gingen an Elisabeth vorbei. Sie war gedanklich in ihre Arbeit vertieft. Erst als der nächste Comedian, der als vielversprechender Newcomer angekündigt wurde, die Bühne betrat, sah Elisabeth auf. Zwei, drei einführende Sätze. Das Aufwärmen, dann legte auch er los. Eine Blondine hat mit ihrem Auto ein anderes Fahrzeug gerammt. Brüllt der Fahrer: „Sie dummes Huhn, haben sie überhaupt eine Fahrprüfung gemacht?“ Zischt die Blondine zurück: „Bestimmt öfter als sie!“ Dieselbe Reaktion wie bei dem anderen Programm. Die Leute tobten, lachten, klatschten, beugten sich zum Nachbar, tuschelten und wischten sich Lachtränen aus den Augen. Der Newcomer legte nach, die Vegetarier, Veganer und Dicken waren nun dran: „Wie nennt man einen schwergewichtigen Vegetarier? Biotonne.“ Von dem Vorgängerwitz noch im Lachmodus, reichte dieser kurze Seitenhieb, um den tosenden Applaus in die Verlängerung zu schicken.

Elisabeth nahm einen weiteren grünen Schnipsel, klebte ihn wie den anderen wahllos auf ihr weißes Blatt Papier, auf dem das Grün inzwischen dominierte. Elisabeth wartete, was der nächste Witz bringen würde. „Treffen sich ein Rollstuhlfahrer und ein Mantafahrer. Fragt der Mantafahrer: „Na, was macht der Bock?“ – „Na so 6 km/h.“ Darauf der Mantafahrer: „So ein Schwachsinn, da kannst du ja gleich zu Fuß gehen.“ Das Publikum reagierte etwas verhaltener. Elisabeth klebte einen weiteren grünen Schnipsel auf ihr Papier. „Was denkt ein Kannibale, wenn er einen Rollstuhlfahrer sieht? Oh geil, Essen auf Rädern.“ Wieder ein grüner Papierschnipsel, dachte Elisabeth, klebte es auf ihr Blatt Papier und schaltete um. Auch hier Comedy – Abend. Es war wieder einer dieser typischen Freitagabende, an dem auf jeden Sender nur Comedy lief. Die Inhalte unterschieden sich nur wenig. Hier wurde sich über Fehler in Inseraten lustig gemacht. Elisabeth schüttelte den Kopf, langte erneut zu den grünen, dieses Mal zu den hellgrünen Schnipseln und suchte einen Platz auf der Collage. Jetzt kam ein richtig guter Witz. Einer, der die politischen Entscheidungen in Frage stellte. Elisabeth lauschte, nahm einen schwarzen Papiertreifen und klebte ihn auf ihr Bild. Dann musste auch dieser Kabarettist oder Comedian abgeschweift sein. Er hatte sich über Doppelnamen lustig gemacht.

Eine Frau stürmte daraufhin auf die Bühne, weil ihr der Witz über den Doppelnamen nicht gefallen hat. Der Fernsehsender reagierte sofort. Klar. Alles ist diskriminierend. Sich über Doppelnamen lustig zu machen, geht gar nicht. Das ist sexistisch. Denn erst seit April 1994 dürfen Ehepaare ihren Familiennamen beibehalten. Vorher nahmen sie den Namen des Mannes an. Unglaublich. Elisabeth schüttelte den Kopf, dass deshalb moniert wurde und alle nach Diskriminierung riefen. Nur die Dicken, die müssen sich alles gefallen lassen. Oder die Blonden. Oder die Behinderten. Die einen haben selber schuld, die anderen sollen sich nicht so aufregen. Humor ist, wenn man über sich selber lacht, wird das begründet und alle Verletzungen abgetan. Auch die Behinderten müssen das akzeptieren. Denn schließlich ist Humor der Schwimmgürtel des Lebens, wird erklärt, warum sich auch diese Personengruppe tolerant verhalten muss.

Inzwischen war Elisabeth mit ihrem Bild fertig. Es war anders ausgefallen als sie geplant hatte. Die grünen Schnipsel standen für Witze, die Menschen wegen ihrer Andersartigkeit beleidigten. Weil sie dick waren, dumm waren oder körperlich beeinträchtigt. Nur die guten Witze, die mit Pointe, weil es das abwegige Verhalten der Gesellschaft oder der Politik auf den Arm nahm, waren mit schwarzen Papierschnipseln dargestellt. Diese Pointen trafen ins Schwarze. Auf dem Bild waren es nur wenige und zeigten sich als Augen und Mund. Dominierend war das Grün, in hellem und dunklem Farbton. Grün, für das Leben. Das sich hier als ein sich übergebender Smiley zeigte, verzerrt in Form eines Spiegels. Er sprach Elisabeth aus dem Herzen. Denn Comedy war kein Kunstprogramm mehr, keine Satire. Lustig war, über Dinge zu lachen, die anderen Menschen zugestoßen sind.

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