„Vergessene“

Nicht alle waren dunkel gekleidet und trugen Mützen auf dem Kopf. Doch alle gingen wie wild auf alles los, was sich ihnen in den Weg stellte. Sie demolierten Autos, schlugen mit Stöcken hin und her. Die Polizei griff ein, ebenso mit Schlagstöcken bewaffnet. Die friedliche Demonstration war gestern Nacht ausgeufert, meinte die Nachrichtensprecherin. Einer der Demoführer trat ans Mikrofon. „Es kann nicht sein, dass Transgender Menschen zu Ausgegrenzten werden … Es ist bewiesen, dass es genetisch bedingt ist… “. Er lobte die vielen Stars, die sich outeten und damit einen Anfang machten, eine Basis schufen, damit Randgruppen nicht mehr wie „ausgegrenzter Abfall“ behandelt werde. Annabelle kannte diese Gespräche schon auswendig. Alle paar Wochen wurde irgendwo gegen irgendeine angebliche Benachteiligung demonstriert. Jeder fühlte sich benachteiligt, von der Gesellschaft im Stich gelassen. Die einen, weil Homosexuelle nur unter bestimmten Voraussetzungen Blut spenden dürfen, die anderen, weil der Hartz IV Satz zu niedrig ist oder weil Abtreibung nicht bedingungslos legal war. Die 30-Jährige nahm die Fernbedienung, die auf ihrer Bettdecke lag und drückte das Bild weg. Inzwischen schon recht geschickt stemmte sie sich mit ihren Händen auf der Matratze ab, um sich in eine bequeme Sitzlage zu bringen. Es würde noch dauern, bis ihre Eltern aufstanden. Sonntags wollten sie ein bisschen länger schlafen. Solange musste Annabelle im Bett warten. Alleine konnte die junge Frau nicht aufstehen. Seit dem Unfall war sie querschnittsgelähmt und musste wieder zu ihren Eltern ziehen. Mit dem Fahrrad war sie nach Feierabend nach Hause in ihre Wohnung geradelt. Es war ein Regentag. Das hatte der Autofahrer als Ausrede genommen. Doch Annabelle war sichtbar gekleidet und fuhr vorsichtig. Der Autofahrer war einfach zu schnell unterwegs und war mit seinem Handy beschäftigt, wie er irgendwann zugab. Annabelle zog das Kreuzworträtselheft vom Nachttisch auf ihre Bettdecke, um das Sudoku zu lösen. Lustlos legte sie den Stift gleich wieder beiseite. Es war jeden Tag dasselbe. Sie wartete, bis ihre Eltern sie auf den Stuhl setzten und wartete dort, bis sie wieder ins Bett gelegt wurde. Tag für Tag. Woche für Woche. Anfangs erhielt sie noch Anrufe von den Arbeitskollegen und den Freundinnen. Doch das schlief nach und nach ein. Wer hatte Interesse an einem Menschen, mit dem man nichts mehr unternehmen konnte? Annabelle hörte Bewegung im Haus. Aber es war nur ein Stockwerk tiefer. Katrin hat das Rollo aufgezogen. Immerhin konnte sie aufstehen und sich bewegen, dachte Annabelle. Trotzdem war die an Trisomie 21 erkrankte Frau alleine. In der Entwicklung war sie wie ein kleines Mädchen. Wer wollte mit ihr spielen? Nicht einmal mit den Eltern wollten die Leute bekannt sein. Das hatte Annabelle schon beobachtet, als sie noch zu Hause lebte. Katrin war inzwischen auch erwachsen. Auf dem Papier. Ihre Geburtsurkunde meinte das. Doch Katrin würde ebenfalls immer abhängig bleiben, wie sie selbst, dachte Annabelle, während sie aus dem Fenster schaute. Das tat auch der Jugendliche im Haus gegenüber. Tobias hieß er, wie Annabelle inzwischen wusste, keine Süßigkeiten essen durfte und mehrere Stunde am Tag in einer Art sterilem Zelt leben musste. Die vielen Sonderbehandlungen und Medikamente, die er brauchte, kostete der Familie viel Geld. Die Krankenkasse übernahm nicht alles. Die Kosten für Tobias galten als „persönlicher Luxus“, weshalb die Familie sparen musste, sich viele Dinge nicht leisten konnte und sie hatten nicht mehr übrig, als eine Hartz IV Familie, die von der Gesellschaft wie ausgegrenzter Abfall behandelt wurde und für die man auf die Straße ging. Auch Tobias musste sehr einsam sein. Hastig schloss er das Fenster. Seine Mutter war ins Zimmer gekommen, dachte Annabelle lachend und begann in Gedanken aufzuzählen, wofür sie trotz ihres miesen Schicksals dankbar sein konnte. Es war immer dasselbe, überlegte Annabelle. Dass sie noch sehen und sich deshalb an der schönen Natur erfreuen oder lesen konnte, dass sie Musik hören konnte, dass sie genug zu essen hatte und im Winter nicht fror, wie andere, die auf der Straße lebten. Auch sie eine Randgruppe, für die niemand auf die Straße ging und Autos demolierte. Annabelle schaute auf den Wecker. Es würde noch eine Stunde dauern, bis ihre Mutter sie aus dem Bett holen würde. Eine Stunde war inzwischen vergangen. Zeit, Nachrichten zu schauen, dachte Annabelle belustigt und schaltete den Fernseher wieder ein. Natürlich wurde erneut über die ausgeuferte Demonstration berichtet. „Bei den Vandalen wurde versehentlich ein kleines Mädchen von einem Stein getroffen. Das Kind ist außer Lebensgefahr, allerdings gehen die Ärzte von bleibenden Schäden aus“, meinte die Sprecherin. Annabelle schüttelte den Kopf, angewidert von diesen gewalttätigen Demonstranten und dachte an das kleine Mädchen, das völlig unverschuldet eine ähnliche Zukunft wie Annabelle, Tobias oder Katrin bevorstand. Die einen waren der „ausgegrenzte Abfall“, für den mit Gewalt, die Stimme erhoben wurde. Aber sie waren der „vergessene Müll“, der verdeckt bleiben musste.

Foto: Photo by Alexander Schimmeck on Unsplash

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