
Mit gesenktem Kopf lief die junge Frau an Irene vorbei. Die Sozialarbeiterin wartete, bis die junge Frau die Wärmestube verlassen hatte, heftete noch ein paar Blätter im Ordner ab und kam dann eilig mit ausgestreckter Hand auf Irene zu.
„Miriam Adam. Ich bin die Sozialarbeiterin hier. Zumindest seit zwei Monaten. Das ist auch der Grund, warum ich Sie bat, kurz zu warten. Ich möchte gerne alle Ehrenamtliche und Unterstützer unserer Wärmestube kennenlernen.“
Ihre Stimme klang freundlich, aufgeschlossen, beinahe warm, registrierte Irene. Doch irgendwas störte Irene. Es war Miriam Adams Blick. Sie schaute Irene an, als würde sie Irene kennen. Zumindest oberflächlich, weshalb sie nun tiefer in Irene sehen wollte. Unangenehm war Irene deshalb, dann von unten bis oben gemustert zu werden. Es ging ganz schnell. Normale Menschen hätten diese Musterung überhaupt nicht bemerkt. Doch Irene war kein normaler Mensch, sagte sie sich immer wieder. Sie funktionierte wie ein Seismograph.
Miriam lächelte. Sie hatte die Musterung wohl bestanden, dachte Irene und öffnete die Hände wieder, die sie in ihrer Jackentasche zur Faust geballt hatte. All das kam Irene wie eine halbe Ewigkeit vor, obwohl es nur zehn Sekunden gedauert hatte.
„Das ist schön. Aber ich bin keine Ehrenamtliche. Ich bin heute sozusagen im Auftrag hier“, antwortete Irene.
Miriam nickte.
„Ich weiß. Ihre Großmutter hat vorhin angerufen und Sie angekündigt. Von meiner Vorgängerin weiß ich, wie hilfsbereit Ihre Großmutter ist. Und von Pater Gregor“, meinte Miriam.
„Da kommt er schon“, fügte Miriam unmittelbar an, als sie kaum hatte sie den Satz beendet Pater Gregor in die Stube kommen sah.
Mit großen Schritten, was für einen beinahe zwei Meter großen Mann nur natürlich war, kam er auf die beiden Frauen zu.
„Ein neues Gesicht?“, fragte Pater Gregor.
Irene schüttelte den Kopf.
„Das wäre schön. Wir könnten hier helfende Hände gut gebrauchen. Nicht nur im Winter“, sagte Miriam zeitgleich.
„Dazu bräuchte ich zum einen mehr Zeit. Zum anderen habe ich mit der Kirche nichts am Hut“, antwortete Irene ein wenig herausfordernd, weil Pater Gregor bei ihnen stehen geblieben war.
„Kirche tut in diesem Fall doch etwas Gutes, indem in Not geratene Menschen eine Mahlzeit, ein warmes Getränk und wenn es nötig ist, auch ein warmes Bett bekommt. Ist das nicht besser als unter der Brücke zu schlafen?“, fragte der Pater.
„Zu helfen ist mir freilich ein Bedürfnis. Aber das muss ich nicht über die Kirche tun. Es gibt andere Anlaufstellen, die ebenso Unterstützung brauchen. Für die Kirche sollte das selbstverständlich sein. Insofern habe ich mich wohl falsch ausgedrückt. Ich habe nichts mit dem Gott der Kirche am Hut“, meinte Irene wieder herausfordernd.
„Glauben Sie an einen anderen Gott?“
Miriam stand stumm daneben. Während Pater Gregor Irene ins Verhör nahm, musterte sie Irene.
„Ich glaube an keinen Gott!“
„Hat das einen bestimmten Grund?“, hakte Pater Gregor nach.
„Muss alles einen Grund haben? Nein. Aber ja, in diesem Fall hat es einen Grund. Von wegen bittet und euch wird gegeben. Ich bitte seit Jahren und es hat sich noch nichts getan. Und wenn ich weitere vier Jahre bitte, wird sich auch weiterhin nichts tun. Also lassen wir das. Ich muss nun wieder nach Hause, meine Großmutter wartet auf mich. Es ist wohl besser, Sie führen das Gespräch mit ihr weiter, denn sie glaubt diese Märchen und das wird sich auch nicht mehr ändern.“
Miriam stopfte die leere Tasche in ihre Winterjacke und gab Miriam die Hand.
„Es hat mich gefreut, Sie kennenzulernen. Vielleicht sehen wir uns im nächsten Jahr wieder, sofern meine Großmutter die Socken und Plätzchen nicht selbst vorbei bringt.“
„Das wäre schön. Vielleicht aber sehen wir uns schon früher wieder“, meinte die Sozialarbeiterin und reichte Irene ein Kuvert.
„Es ist eine Einladung zum Essen für übermorgen, für den ersten Feiertag. Auf diese Art möchte ich mich bei allen langjährigen Helfern bedanken und in Ruhe mit ihnen sprechen“, erklärte Miriam.
„Das wird meine Großmutter bestimmt freuen“, antwortete Irene höflich und wollte gerade die Tür öffnen, als Pater Gregor rief.
„Einen Augenblick bitte noch. Gestatten Sie mir eine kurze Frage. Sie sagten vorhin, dass Gott Ihnen bisher noch keine Bitte erfüllt hat, zumindest in den letzten Jahren nicht. Darf ich fragen, was Sie getan haben, was Gott von uns erwartet?“
„Ich habe nicht getötet. Ich habe nicht gestohlen. Meinen Sie das?“ Irene klang trotzig.
„Das meinte ich jetzt nicht. Beten Sie regelmäßig oder nur, wenn es brennt? Besuchen Sie den Gottesdienst? All das, was in den ersten Geboten steht?“
„Das dachte ich mir. ER erfüllt nicht jede Bitte sofort. ER kann auch prüfen. Aber vielleicht würde es reichen, wenigstens einmal den ersten Schritt zu unternehmen? Kommen Sie doch morgen an Heiligabend zu uns in die Kirche. Ihrer Großmutter würden Sie zudem einen großen Gefallen tun. Auch das ist ein Geschenk“, sagte Pater Gregor.
Irene nickte, öffnete die Tür, zog sie kräftig zu und lehnte sich dagegen.
„Puh. Um ein Haar wäre ich nicht mehr aus der Stube gekommen.“ Irene strich über ihre Jacke als müsste sie Staub abklopfen. Verärgert lief sie nach Hause. Und doch gingen ihr Pater Gregors Worte nicht mehr aus dem Sinn.
„Hier, eine Einladung für dich“, rief Irene und legte das Kuvert am Platz ihrer Großmutter auf den Tisch.
„Für mich? Weshalb und wofür?“, fragte Irenes Oma, während sie das Kuvert öffnete.
„Eine Einladung zum Essen. Eine Dankveranstaltung für die ehrenamtlichen Helfer der Wärmestube“, antwortete Irene.
„Nein. Das ist eine Einladung für dich und mich“, sagte Irenes Oma.
„Eine Überraschung wird es geben“, las Oma Annegret vor.
„Eine Überraschung? Na, das hat es noch nie gegeben. Aber warum bist auch du eingeladen?“.
„Wahrscheinlich hat sie von deinem Unglück in der Christbaumplantage erfahren. Es gibt kaum einen, der nicht über Wunders Verhalten redet“, plapperte Irenes Oma munter weiter.
„Möchtest du morgen in die Kirche gehen?“, unterbrach Irene den Redefluss ihrer Oma.
„Würdest du mich denn begleiten?“
Irene nickte. Pater Gregors Worte hatten in ihr bewirkt, es nochmal zu probieren. Er hatte ja Recht. Sie forderte immer nur.
Gleich nach dem Abendessen schlief Irene am Sofa ein. Sie war schwach und hätte sich eigentlich den ganzen Tag ausruhen sollen. Stattdessen jagte eine Hiobsbotschaft die nächste. Aber wenn sie an Heiligabend schon in die Kirche ging, dann wollte sie gleich um ein zweites Wunder bitten, damit Ingo Wunder nicht länger mit seinen Machenschaften andere Menschen ausbeuten konnte. Mal sehen, ob ihre Bitten dieses Mal erhört werden würden.
Annegret Winter war glücklich, als sie in der Kirchenbank saß, die meterhohen geschmückten Christbäume mit den einfachen Strohsternen als Schmuck betrachten konnte. Erst da fühlte sie Weihnachten. Vor allem mochte sie die Kinder, die sich mit dem Krippenspiel so bemühten. Mit einem Stock kam Josef den Flur entlang gelaufen. Vor dem Altar war eine Krippe mit Stroh gefüllt aufgebaut. Neben Josef lief Maria.
Irenes Oma schaute angestrengt, konnte die beiden Jugendlichen aber nicht erkennen. Selbst als sie am Altar standen und sich den Besuchern zugewandt hatten, rätselte Annegret noch, wer heuer Maria und Josef spielten.
„Das ist doch….“ Irene stieß ihre Oma mit dem Arm an und beugte sich zu ihr hinüber.
„Maria sieht aus wie Luisa“, flüsterte Irene aufgeregt.
„Du weißt doch überhaupt nicht, wie Luisa aussieht. Wir haben sie seit Jahren nicht gesehen“, antwortete Annegret.
„Aber sie könnte es sein. Luisa könnte so aussehen“, sagte Irene.
Den ganzen Gottesdienst dachte Irene nichts anderes. War es ihre Schwester Luisa? Sie hoffte, der Pfarrer würde am Ende die Namen der jugendlichen Krippenspieler vorlesen. Aber er tat es nicht.
Das Mädchen lief mit einem Bündel im Arm, Josef an der Seite, den Flur wieder entlang zur Kirchentür. Doch, das war Luisa, war sich Irene beinahe sicher.
Sie sprang auf, um den beiden zu folgen, doch die anderen Gottesdienstbesucher kamen ihr zuvor. Reihe um Reihe leerte sich, bis endlich die Leute aus ihrer Bank aufstehen und die Kirche verlassen durften.
Vor der Kirchentür schaute sich Irene um. Das Mädchen war verschwunden. Wut, Trauer und Verzweiflung breiteten sich in Irene aus.
„Hallo Frau Wagner. Es freut mich sehr, dass Sie heute zur Messe gekommen sind!“
Irene erkannte die Stimme der Sozialarbeiterin sofort. Es blieb ihr wohl nichts anderes übrig, als sich höflich für die Einladung zu bedanken. Dazu kam Irene jedoch nicht, denn plötzlich war „Maria“ da und fiel Irene um den Hals.
„Luisa. Du bist es doch gewesen. Dass ich dich wiedersehe, das ist ein Wunder!“, rief Irene und drückte ihre Schwester überglücklich.
„Wo lebst du? Was machst du hier? Warum habe ich dich all die Jahre nicht gesehen?“ Aus Irene sprudelten die Fragen nur so heraus, währende Luisa ihre Großmutter umarmte.
„Wir sind erst vor zwei Monaten hierher gezogen“, sagte die Sozialarbeiterin.
„Luisa lebt bei uns. Aber sie ist 14 Jahre alt und darf nun selbst entscheiden, wo sie leben möchte. Weiterhin bei uns oder bei Ihnen beiden“, erklärte Miriam.
„Ich bin froh, Frau Winter, dass es durch Ihr Ehrenamt so einfach war, Kontakt herzustellen. Die Einladung hat freilich nicht den Grund, meine Ehrenamtlichen besser kennenzulernen, sondern damit Sie und Luisa sich wieder kennenlernen und gemeinsam entscheiden können“, sagte Miriam.
„Übrigens. Wir leben in einer Kleinstadt, da bleibt nichts lange ein Geheimnis. So habe auch ich von Ihren Problemen mit Ingo Wunder erfahren. Der Mann, der Ihnen den Job vermittelt hat, den habe ich vor meinem Job in der Wärmeküche betreut. Er ist bereit gegen Wunder auszusagen, denn Wunder hat auch ihn um sein Geld betrogen. Mit denselben Methoden. Doch dieses Mal fällt er selbst in die Grube, die er anderen gegraben hat“, sagte Miriam.
„Doch darüber zu reden, dazu haben wir morgen Gelegenheit genug.“
Irene war überglücklich.
In dem Moment ging Pater Gregor an ihnen vorbei und wünschte Frohe Weihnachten.
„Es freut mich, dass Sie meine Anregung umgesetzt haben“, sagte Pater Gregor.
„Und ich kann Ihnen bestätigten, dass es funktioniert hat. Heute ist das Wunder geschehen“, sagte Irene. Und Ingo Wunder würde auch eins erleben, ein blaues Wunder.
ENDE
Text: Petra Malbrich