Adventsgeschichte Das Zeichen Teil 3:

 Mit einem Ruck riss Irene die Haustüre auf, noch bevor Ingo Wunder klingeln konnte.

„Sie haben Humor, hier nochmal aufzutauchen. Ich werde Sie anzeigen, wegen Schwarzarbeit“, keifte Irene, die sogleich von einem Hustenanfall gebeutelt wurde. Dass sie sich damit selbst schaden würde, denn sie hatte die Schwarzarbeit angenommen, war Irene in dieser Sekunde nicht bewusst.

Wohl aber Ingo Wunder, der breit grinste.

„Hatte ich Ihnen nicht erst kürzlich gesagt, Sie sollen sich auskurieren und das nächste Mal achtsamer sein. Was glauben Sie, warum in der Plantage eine Hütte steht?“ Wunder hatte Irenes Vorwurf einfach ignoriert, ärgerte sich Irene. Noch immer hielt er ihr einen Umschlag entgegen. Als sie nicht reagierte, warf er den Umschlag einfach in den Briefschlitz an der Haustür.

Erst jetzt registrierte Irene, dass er alles mit dem Handy filmte.

„Was tun Sie? Was soll das? Filmen Sie etwa diese Unterhaltung?“ Irenes Stimme klang immer schriller, je lauter sie brüllte. Sie war stinksauer vor Wut und Verzweiflung.

„Klar filme ich. Irgendwie muss ich doch beweisen, dass Sie meine Aufforderung, Ihre Steuerkarte endlich abzugeben mehrfach ignoriert haben. Doch dass dies Ihnen nicht zugestellt worden ist, damit können Sie sich nun nicht herausreden. Zur Krönung haben Sie mich auch noch der Schwarzarbeit bezichtigt und mich just vor drei Minuten mit einer Anzeige erpresst. So läuft das nicht, junge Dame. Natürlich sind alle meine Mitarbeiter und Aushilfen sozialversicherungspflichtig angestellt“, sagte Wunder und schaltete das Handy aus.

Schon sein Tonfall war ruhig und zugleich überheblich, dass Irene nur noch den Wunsch verspürte, ihm kräftig ins Gesicht zu schlagen. Was bildete sich dieser hinterhältige, scheinheilige, kriminelle Hallodri eigentlich ein?  Den Schrei erstickte sie, indem sie schwer schluckte und tief durchatmete. Freilich hatten Menschen wie Wunder nichts zu befürchten. Sie waren immer auf der Gewinnerseite. Sie hatten Freunde auf der richtigen Seite. Eine Hand wäscht die andere. Wer von ihnen allen hatte keinen Dreck am Stecken?

Irenes Augen waren tränenverschmiert. Als sie wieder aufschaute, war Wunder weg. Sie hörte nur noch die Reifen seines Sportwagens quietschen. Klar, dieser Lärm musste sein, damit alle wussten, Wunder ist unterwegs. Er hatte die arme Irene besucht, würden die Leute erzählen. Er wusste, wie man sich ins rechte Licht setzte. Völlig ausgelaugt schloss Irene die Tür. Dann riss sie die Tür wieder auf und knallte sie zu.

„Du bist ein Kindskopf. Es bringt dir doch nichts“, rief Irenes Oma.

„Doch, es bringt mir Erleichterung“, schrie Irene zurück.

„Wer erleichtert ist, ist anders drauf als du es jetzt bist“, meinte die Oma mit sanfter Stimme.

Sie hob den Brief, der auf dem Boden im Flur lag, auf und öffnete das Kuvert.

Tatsächlich war schon im Betreff die dritte Aufforderung zur Abgabe der für die Anmeldung des sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnisses notwendigen Unterlagen.

Aber es lag noch ein weiteres Schreiben in dem Umschlag. Darin wurde Irene aufgefordert, für den durch sie verursachten Schaden in Höhe von 2000 Euro aufgrund von Arbeitsverweigerung binnen zwei Wochen die genannte Summe an Wunder zu überweisen.

„Ich habe nichts beschädigt. Ich war lediglich etwas ungehalten, als er und seine Begleiterin eine Christbaumschau veranstalten wollten. Ich war klatschnass“, knurrte Irene.

„Und seinen Baum hätte er ohnehin nicht bezahlt, dieser Blödkopf. Mir will er nun einen Schaden andichten. Die ganze Show diente doch nur dem Zweck, dass er mich um meinen Verdienst prellen konnte. Wenn ich nicht ohnmächtig geworden wäre, hätte er sich ein anderes Märchen ausgedacht, um mich zu demütigen und zu erpressen. Dieser miese Hund“, schimpfte Irene, heftig mit dem Fuß stampfend. Warum verwendete der Mensch immer die Bezeichnung der Tiere, die am sozialsten sind, um asoziales menschliches Handeln zu beschreiben? Ein Widerspruch in sich.

„So verbreiten sich Unwahrheiten. Deshalb gelten Tiere als unsozial, als triebhaft und gierig, weil es der Mensch ihnen andichtet“, brüllte Irene.

Irenes Oma schüttelte den Kopf. Sie seufzte tief.

„Es bringt nichts, über verschüttete Milch zu heulen. Vielmehr sollte es dir eine Lehre sein, sich nicht auf solche Schwarzarbeit einzulassen. Vor allem nicht, wenn der Anbieter so bekannt ist wie Wunder. Und jetzt ruhe dich aus, damit du bis Weihnachten gesund bist“, meinte Irenes Oma.

Irene überlegte. Sie hatte keinen Namen erfahren, aber auch nicht danach gefragt. Es stand ein Schild „Aushilfe gesucht“ in der Plantage. Eine Handynummer war angegeben. Die mündliche Vereinbarung hatte sie mit einem Mann getroffen, der ganz sicher nicht Ingo Wunder war. Dieser Name war überhaupt nicht gefallen. Sie hatten das per Handschlag geregelt.

Was konnte sie tun? Hier könnte auch ein Anwalt nichts ausrichten. Wunder war im Vorteil. Leute wie er waren immer im Vorteil.

„Aaaaah. Warum wir? Warum muss das immer uns passieren?“, schrie Irene.

„Warum hast du deine Tochter nicht von dem Fentanyl abgehalten? Es ist alles deine Schuld!“, legte Irene nach.

Irenes Oma war kreidebleich geworden.

„Das ist mir nur so rausgerutscht, Oma. Das tut mir leid. Das wollte ich nicht sagen. Es tut mir leid, hörst du?“

„Ach Kind. Wem hätte es genutzt? Deine Mutter hatte Krebs. Sie hatte Schmerzen. Zwar wurde der Tumor wegoperiert, aber er hatte schon überall gestreut. Es hatte keinen Sinn mehr. Deine Mutter brauchte das Medikament. Ich habe lange überlegt, wie ich ihr helfen könnte. Es gab für sie keine Hilfe mehr. Sie wollte lieber an dem Medikament sterben, als an dem Krebs. Sie hatte Angst vor dem Siechtum, das vor ihr lag.“

Irenes Oma weinte, als sie sich an die Situation vor vier Jahren erinnerte. Als ihre Tochter ihr mitteilte, Sterbehilfe zu nehmen. Sie wusste aber nicht, dass sie damit eine Überdosis meinte. Sie dachte, es sei ärztlich überwacht. Diese anderen Geschichten mit den Pflastern, waren erfunden. Von Menschen, die sich über alles den Mund zerrissen. Jeder erfand etwas dazu. So war das Leben. Irenes Oma gab nichts darauf. Dass es ihrer Enkelin so nahe gehen würde, dass ihre Enkelin deshalb negative Gefühle auf sie und ihre Mutter hegte, daran hatte sie nicht gedacht. Irene hatte seit dem Tod ihrer Mutter viele Schicksalsschläge erleben müssen. Dass das Leben selten fair ist, hatte sie auf die harte Tour gelernt. Aber jetzt wäre es genug, fand Irenes Oma. Auch sie war durch den Tod ihrer Tochter gezeichnet. Sie musste nicht nur den Verlust ihres Kindes verarbeiten, sondern auch den Verlust der Enkelin, weil sie sich nicht um beide Kinder kümmern konnte. Das raubte ihr den Lebensmut. Doch nun musste sie für Irene einstehen.

„Wir lassen uns das nicht gefallen. Wir holen uns morgen Hilfe. Wir werden gegen ihn vorgehen. Wenn es bekannt wird, melden sich vielleicht mehr Betroffene. Wer so handelt wie Wunder, macht das nicht zum ersten Mal“, sagte Irenes Oma kämpferisch.

„Es tut mir so leid, Großmutter. Das hätte ich nicht sagen sollen.“ Irene weinte und ließ sich widerstandslos von ihrer Oma ins Wohnzimmer führen.

„Schlafe ein wenig. Heute früh hast du dich selbst aus dem Krankenhaus entlassen. Du musst dich schonen. Dann tu das endlich. Du kannst heute ohnehin nichts mehr bewirken, außer dann zur Wärmestube gehen und die Kleidung abgeben“, sagte Irenes Oma.

Hatte sie ihre Großmutter als senil bezeichnet? Irgendwann? Sie war alles andere als senil, dachte Irene, kurz bevor sie einschlief.

Ein Gewitter weckte sie auf. Schneeregen prasselte herab. Ein Gewitter im Winter. So selten war das nicht und doch passte es nicht in die Jahreszeit, fand Irene.

Ihre Oma hatte ein paar Winterjacken aussortiert. Wäsche, die noch gut war, aber nicht mehr passten. Sie konnten den Obdachlosen einen guten Dienst erweisen. Jedes Jahr brachte Irenes Oma Kleidung zu den Obdachlosen. Übers Jahr strickte sie ein paar warme Socken und obendrein packte sie Plätzchen in Tüten.

Auf Irenes Frage, ob ihnen mit Fertigsuppen nicht besser geholfen wäre, meinte ihre Oma nur, dass der Mensch auch etwas fürs Herz brauche. Etwas Besonderes. Eine Blume oder eben Plätzchen. Diese gehören außerdem zu Weihnachten wie das kleine Jesuskind zur Krippe.

Fast beschwingt fühlte sich Irene nach den zwei Stunden Schlaf und ging trotz der zurückliegenden Schreckensstunden beinahe beschwingt zur Wärmestube.

Es war später Nachmittag dieses ungemütlichen Tages, zwei Tage vor Heiligabend.

„Meine Großmutter Annegret Winter schickt mich“, rief Irene in die Stube und stellte die Taschen mit den Winterjacken auf den Boden. Die große Einkaufstasche mit den vielen kleinen Plätzchentüten behielt sie in der Hand. Ein paar Männer und Frauen wärmten ihre klammen Hände an einer Tasse heißen Tee. Selbst ein Kind war  dabei, saß etwas abseits. Es hatte einen finsteren Blick.

Es schämte sich, dachte Irene. Fragen, warum diese Familie obdachlos geworden war, wollte Irene nicht. Es würde sie beschämen.

Eine Frau saß an einem provisorisch eingerichteten Schreibtisch in der hinteren Ecke des Zimmers. Es war wohl die Sozialarbeiterin, die sich gerade mit einer jungen Frau unterhielt. Die junge Frau hatte dick geschwollene Augen. Sie hatte wohl viel geheult, überlegte Irene. Möglicherweise hatte auch sie ihre Wohnung verloren. In welcher Welt lebten wir, überlegte Irene. Menschen wurden obdachlos, weil das Leben zu teuer wurde, weil sie zudem vom Schicksal gebeutelt wurden, weil die Gemeinden keine Unterkunft für solche Fälle hatten, weil die vorhandenen Unterkünfte oft nichts Besseres als feuchte mit Schimmelpilzen überzogene Löcher waren. Dort konnte man nicht leben, dort wurde man krank.

Es tat Irene gut, das Unglück der anderen zu sehen. So erkannte sie, wie gut sie es trotz Ingo Wunders Verhalten noch immer hatte. Statt zu nörgeln, sollte sie dankbar sein. Wem? Demselben Schöpfer, der zuließ, dass Menschen wie diese Leute hier so respektlos leben mussten und Kriminelle wie Wunder immer oben schwammen? Irene drohte an dem Elend hier zu ersticken. Menschen, in heruntergekommenen Kleidungsstücken, völlig stinkend und verdreckt. Die Haare seit Tagen ungewaschen. Der ganze Mensch roch nach Schweiß. Irene wurde es schlecht. Gegen diesen ungepflegten Geruch kam der Duft der Plätzchen nicht an. Irene musste raus aus dieser Wärmestube, zugleich schämte sie sich für ihre niederen Gedanken. Oder ihrem eigenen Hochmut. War es das? Konnte ihre Abneigung mit Hochmut beschrieben werden? Eilig stellte Irene die Plätzchentüten neben die Kaffeemaschine und dem Wasserkocher auf der Anrichte.

Als sie die letzte Tüte abstellte und gerade gehen wollte, hörte Irene die Sozialarbeiterin rufen.

„Hallo, Frau Wagner! Können Sie kurz warten? Ich komme gleich zu Ihnen.“

Irene blieb wie versteinert stehen. Woher wusste die Frau, dass sie Wagner hieß, wie ihre Mutter nach der Heirat, nicht Winter wie ihre Oma? Woher kannte die Frau sie? Was wollte sie von ihr?

FORTSETZUNG FOLGT

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