Von einem fürchterlichen Wehlaut wachte Marilla schweißgebadet auf. Durch die Rolloritzen schimmerte bereits Tageslicht. Im Zimmer war es still, draußen ebenfalls, stellte Marilla erleichtert fest. Das jämmerliche tierische Heulen geschah in ihrem Traum. Marilla war einerseits erleichtert. Ein dominantes Tier, welches, konnte sie im Traum nicht erkennen, hatte sich auf einen kleinen Affen gestürzt und ihn bei lebendigem Leib fressen wollen. Biss für Biss. Als wäre jede Qual ein Genuss. „Töte ihn doch wenigstens“ hatte Marilla im Schlaf gebrüllt. Ein jämmerliches Heulen folgte ihrer Aufforderung. Dann wachte sie auf. Marilla schlug die Bettdecke zurück, als wieder ein herzzerreißendes Wimmern einsetzte. Nein, das war kein Traum, das war bei ihr im Hof, registrierte Marilla. Sie zog ihre Klamotten an und versuchte gleichzeitig zum Fenster in der Küche zu hüpfen. Von dort aus konnte sie den Hof überblicken.
Nichts war zu sehen. Das Wimmern hatte wieder aufgehört. Von weiter weg setzte nun ein Klopfen oder Hämmern ein. Nicht einmal die sonntägliche Ruhe wurde mehr eingehalten, ärgerte sich Marilla und riss das Fenster auf. Doch draußen war Totenstille. Kein Klopfen, kein Hämmern und kein Heulen und Wimmern. Langsam zweifelte sie an ihrem Hörvermögen und an ihrem Verstand. Sie sollte weniger Krimis und Psychothriller schauen, nahm sich Marilla vor und schloss das Fenster.
Doch kaum war das Fenster zu, ertönte wieder ein Geräusch. Als würde jemand trommeln. Kurz darauf war der tierische Wehschrei zu hören. Kopfschüttelnd öffnete Marilla das Fenster, lauschte angestrengt, aus welcher Richtung welche Geräusche und Schreie kamen, doch wieder blieb es mucksmäuschenstill.
„Marilla, du spinnst“, sagte die junge Frau laut, schloss das Fenster und hielt sich die Ohren zu.
Es war keine Minute vergangen, da quietschte es laut. Diesen Laut konnte Marilla nicht zuordnen. War es eine nicht geschmierte Tür? Ein verrosteter Riegel oder ein verzweifeltes Tier, das einen Ausgang suchte?
Marilla reichte es nun. Eilig schlüpfte sie in ihre Schuhe, zog ihre Jacke an, nahm ihren Schlüssel und verließ vorsichtig das Haus. Immer wieder drehte sie sich um, nicht dass es nur eine Falle war, sie nun eine Pfanne auf den Kopf geschlagen bekam und die Täter in die Wohnung drangen. Zu sehen war niemand, weshalb Marilla weiter in Richtung Gartenzaun lief. Nebenan war eine kleine Betriebshalle. Doch am Wochenende war niemand zum Arbeiten dort. Sollten dort Einbrecher am Werk sein? Abrupt blieb Marilla bei dem Gedanken stehen. Das Handy hatte sie im Haus, die Autoschlüssel waren zwar am Schlüsselbund, aber das Auto stand in der Garage auf der anderen Grundstücksseite und wie zu erwarten, war nun wieder absolute Stille. Kein Geschrei, kein Geheule und kein Quietschen.
Den Kopf immer in alle Richtungen bewegend, um das Grundstück im Blick zu haben, näherte sich Marilla dem Gartenzaun. Sie bog die Zweige ihrer Hecke zur Seite, durchsuchte den Heckenboden, ohne Erfolg. Nichts war zu sehen, nichts zu hören.
„Da. Ein Loch im Zaun“, kommentierte Marilla. Tatsächlich war in dem Zaun eine Öffnung sichtbar. Es sah allerdings eher so aus, als hätte jemand beim Heckenschneiden den Maschendrahtzaun erwischt.
„Ich habe keine Hecke geschnitten“, sagte Marilla laut, was für einen möglichen Mithörer bedeuten solle, sie wisse, dass ein Fremder am Werk war, der sich so ein geheimes Schlupfloch zu ihrem Grundstück gemacht hat und sie wisse, dass er noch hier in der Nähe war.
Marilla blickte nach oben. Das Schlafzimmer und ein Teil des Wohnzimmers waren von der Stelle aus sichtbar.
Wer stand hier und beobachtete sie? Wie oft und wie lange schon?
Marilla blieb das das Herz stehen als plötzlich wieder ein Heulen zu hören war. Jetzt konnte sie es eindeutig orten. Es kam von dem Fabrikgelände nebenan.
Marilla atmete tief ein. Mutig zwängte sie sich durch ihre Hecke und versuchte durch das Loch im Zaun zum Fabrikgelände zu gelangen.
Kaum hatte sie fremden Boden unter den Füßen, heulte es wieder laut auf.
Es kam aus der Halle, dessen war sich Marilla nun sicher. Allerdings klang es nicht mehr wie ein Tier oder ein verzweifeltes Flehen, auch nicht wie ein Wehlaut, sondern wie eine Flex, ein elektrisches Schneidegerät oder wie ein Schweißgerät.
Noch ehe sie das zu Ende gedacht hatte, öffnete sich die Tür der kleinen Halle. Regungslos blieb Marilla mitten auf dem Weg stehen. Der Firmenchef selbst kam aus der Halle, hatte einen Bleistift und ein Schreibbrett in der Hand und ging schnurstracks auf sein Bürogebäude zu.
Offenbar hatte er Marilla nicht gesehen. Erleichtert atmete sie auf und just in dem Moment als sie sich wieder durch das Loch im Zaun zu ihrem eigenen Grundstück zwängen wollte, sah sie eine Spiegelung. Reflexartig hob Marilla den Kopf in Richtung Wohnzimmer und konnte gerade noch eine Silhouette erkennen, die sich vom Fenster entfernte.
„Herzlichen Glückwunsch zu dieser Leistung. In Dummheit ist Marilla nicht zu toppen“, sagte Marilla kopfschüttelnd. Sie hatte noch geahnt, dass es sich bei den herzzerreißenden Lauten um ein Ablenkungsmanöver halten könnte, damit der Täter ungehindert in ihre Wohnung dringen konnte und trotzdem rannte sie in den Hof. Andererseits wer sollte etwas in ihrem Haus suchen? Sie hatte weder Geld noch Kostbarkeiten.
Doch, nickte Marilla, ihre Dummheit war zu toppen, indem sie das Handy im Haus ließ bei irgendwelchen Einbrechern und sie somit nicht einmal die Polizei oder den Notruf wählen konnte, sollten die Einbrecher zuschlagen. So sehr sie sich auch das Hirn zermarterte, es fiel ihr keine Lösung ein. Die einzig realistische Lösung wäre, das Grundstück zu verlassen und in das nächste Dorf zu laufen. Andererseits hätte ein Täter bestimmt irgendwo ein Auto und würde sie einholen. Niemand würde das in der am Wochenende relativ verlassenen Gegend bemerken. Das kam davon, wenn man in ein Randgebiet zog, nur um abgeschieden leben zu können und dafür auch ein Gewerbegebiet in Kauf nahm.
Marilla stand noch immer bewegungslos in Nähe ihrer Hecke, unentschlossen, was zu tun. Die Schreie waren verstummt. Eine bedrückende Stille trat ein, die von Schritten unterbrochen wurde. Marilla wusste, der Täter stand hinter ihr, aber sie war unfähig, sich zu bewegen. Sollte sie die Hände in die Höhe strecken und sich ergeben? Um Gnade bitten?
Marilla beschloss, sich wie ein kleines Kind zu verhalten. Was sie nicht sah, gab es nicht. Sie drehte sich nicht um, aber das war auch nicht nötig, denn keine zwei Sekunden später lief der Firmenchef an ihr vorbei. Statt seines Blaumanns trug er nun eine Jeans und ein Hemd.
„Marilla. Ist alles in Ordnung? Warum stehen sie hier wie angewurzelt?“, fragte Gabriel verwundert. In der Hand hielt er einen Metallhund.
„Ach, das ist für Sie“, sagte Gabriel und streckte Marilla das Metallgebilde entgegen.
„Es ist gerade erst fertig geworden“, erklärte Gabriel.
Marilla schaute ihn fragend an.
„Ihre Mutter hat mir verraten, dass Sie einen originellen Bewegungsmelder brauchen. Einen, der ein Geräusch macht, wenn sich jemand zu sehr dem Haus nähert“, erklärte Gabriel.
„Da habe ich mir einen Hund als Bewegungsmelder ausgedacht. Hören Sie, ich werde das nun demonstrieren, er jauchzt, wenn sich jemand nähert“, sagte Gabriel.
„Das ist mein Geschenk für Sie. Danke für die Einladung zur Einweihungsparty“, sagte Gabriel und drückte Marilla den Metallhund in die Hand.
„Einweihungsparty?“
Mehr brachte Marilla nicht raus.
Marilla, du hast dich nochmal getoppt. Wie konntest du deine Einweihungsparty vergessen? Die Silhouette war dann ihre Schwester, die beim Anrichten helfen wollte.
„Aber das Loch im Zaun?“, sagte Marilla mehr zu sich selbst.
„Daran werden Sie sich gewöhnen. Hier am Ortsrand sind öfter Füchse unterwegs und wenn sie Fressen riechen oder ein Tier wittern, dann beißen sie auch mal den Zaun durch“, sagte Gabriel.
„Für solche Fälle wird Sie der Bewegungsmelder warnen.“
Gabriel stellte ihn wenige Meter von der Haustür entfernt auf dem Weg ab.
Noch bevor er und Marilla im Haus waren, ertönte ein Wehlaut. So wie wenn ein Tier verzweifelt ruft und jault. Kurz darauf blieb es wieder still.
