
Jeder wusste, dass Anitas Leben nicht einfach war. Jeder wusste, wie streng ihre Eltern waren. Sie bewohnten ein großes Haus, ein altes ehemaliges Bauernhaus, das im Winter nie richtig warm war. Es war zu groß, um beheizt werden zu können. Geld hatten ihre Eltern genug, aber sie gehörten zu den Kriegskindern, die noch sehr sparsam erzogen worden waren. Das haben sie ihr Leben lang beibehalten und auch so gelebt. Selbst als Anita mit siebzehn eine Lehre begonnen hatte, durfte sie nicht selbst entscheiden, ob ihr Zimmer beheizt werden durfte. Erst abends, wenn sie nach Hause kam, durfte sie die Heizung aufdrehen. Das war oft erst nach 18 Uhr und das kalte Zimmer wurde nie warm. Einen Radiator hatte sich Anita deshalb von ihrem ersten Lohn gekauft und diesen auf höchste Stufe gedreht. Mit der Winterjacke saß sie in ihrem Zimmer, die eiskalten Hände über den Radiator haltend, um die Finger wieder bewegen zu können. Sie schaltete ihre alte Stereoanlage ein, drehte die Musik ganz leise, damit die Eltern nicht wieder gerannt kamen und ihr Stromverschwendung vorwarfen. Anita lachte. Dass der Radiator ein Stromfresser war, das schien den Eltern egal zu sein. Sie hatte nur den Wunsch, endlich genug zu verdienen, um ausziehen zu können.
Anitas Hände waren nun warm genug. Das Zimmer füllte sich ebenfalls mit wohliger Wärme, sodass Anita ihre Winterjacke auszog. Ihr Blick fiel auf das Fensterbrett, auf dem ein schwarzer Fusel lag. So sah es jedenfalls aus. Anita störte dieser kleine Fleck. Sie hasste jede Art von Unordnung, weshalb sie aufstand, ein Taschentuch in der Hand, um die Fensterbank zu säubern. Es war kein Staubkorn, das kleine schwarze Etwas war ein Marienkäfer mit zwei roten Punkten. Anita betrachtete den Käfer von allen Seiten. Es musste ein Marienkäfer sein, wenn diese sonst auch rot waren. Zweipunkt Marienkäfer verriet ihr die Internet-Suchmaschine. Die schwarzen Käfer kamen ungefähr 15 Prozent vor und waren weniger robust. Den Winter überlebten viele nicht. Sollte man einen finden, sollte man ihn im kalten Raum, am besten am Dachboden, überwintern. Zwei Punkte hatte er. Wunschpunkte? Das hatten sie als Kinder oft gedacht. Oder dass die Anzahl der Punkte das Alter der Tiere zeigte. Ja, wenn das Wunschpunkte wären, dann wünschte sie sich einen Freund. Oder eine Freundin. Anita wollte nicht mehr allein sein. Ihr war durch die Einsamkeit innerlich so kalt, dass sie noch mehr fror. Jeder wusste wie Anita leben musste. Jeder bemühte sich freundlich zu sein, das wusste Anita. Doch mehr als Freundlichkeit gab ihr niemand von den anderen. Sie dachten, mit einem freundlichen Wort oder einem freundlichem Nicken genug Nächstenliebe gezeigt zu haben, dachte Anita.
Ihre Hände waren nun vollständig aufgetaut. Sie konnte wieder jeden Finger bewegen, weshalb sie die Zeitung aus der Tasche zog und durchblätterte. Kurz vor Feierabend warf Anitas Chef die Zeitung in den Papierkorb. Da ihre Eltern nie eine Zeitung erlaubt hätten, fischte Anita die Zeitung aus dem Papierkorb und nahm sie mit nach Hause. Inzwischen war Anita bei den Todesanzeigen angekommen. Normalerweise überblätterte sie diese Seiten zügig, doch dieses Mal blieb ihr Blick auf einem Namen hängen. Moritz M. Ein tragischer Verkehrsunfall. Anita war schockiert. Moritz war tot? Moritz, der Außenseiter? Der immer freundlich zu ihr war? Er lebte nicht mehr?
Anita starrte auf die Anzeige. Ein kleines Bild von ihm zierte die erschütternde Nachricht.
Jeder wusste, dass es Moritz nicht einfach hatte.
Jeder wusste, dass Moritz von seinen Eltern nicht gewollt war. Er war nie die Krönung der Beziehung, sondern ein Übel, das von dem bequemen Leben abhielt. An Geld mangelte es ihnen nicht. Aber ein Kind schrie, wollte beschäftigt werden, was den Eltern nicht gefallen hatte. Keiner von ihnen hatte Lust gehabt, im Sommer den Pool zu verlassen, um dem Kind die Flasche zu geben. Keiner von ihnen hatte Interesse gehabt, ihn bei der Theateraufführung zu bejubeln. Am Tanzabschlussball war er allein gekommen, auch zur Schulabschlussfeier. Aber er war nie allein gestanden. Er hatte so viel Geld bekommen, um immer ein paar Schüler einzuladen. Alle hatten sie seine Großzügigkeit genutzt. Alle hatten sich von ihm Geld geholt, in der Disco für eine Cola, auf der Kirchweih für eine Maß Bier. Es waren immer Mitschüler um ihn herum. Trotzdem war er der Außenseiter, denn alle Ausflüge, alle Events, hatten ohne ihn stattgefunden. Er war nur gefragt worden, wenn er gebraucht worden war. Als Finanzier. Er war der Wohltäter, doch seine Mitmenschen glaubten, ihm damit einen Gefallen zu tun. So konnten sie sich von ihrer sozialen Verantwortung frei denken.
Anita schluckte eine Träne hinunter. Warum hatte sie ihn ebenfalls gemieden? Sie hatte sich zwar nie einladen lassen, aber Kontakt wollte sie zu ihm auch nicht haben. Warum? Er war nett zu ihr. Unaufdringlich. Einfach nur höflich und nett. Vielleicht wollte er nur einen Freund haben? Einen, mit dem man über die Probleme reden konnte. Über die Eltern und Mitschüler. Über die Träume und Wünsche. Und vielleicht brauchte auch er einen Menschen, der bremste, wenn man dabei war, sich zu verrennen.
Hätte er sie gebraucht? Anita überlegte. Vielleicht. Sie aber hätte ihn gebraucht, wurde ihr nun bewusst. Sie wusste, dass es kein Verkehrsunfall war. Wie ferngesteuert schlug Anita die Zeitung zu, stand auf, schaltete ihren Laptop ein und rief die Seite der Feuerwehr auf. Sie hatten Fotos von dem Unfall eingestellt, waren sie doch am Unfallzeitpunkt als Ersthelfer vor Ort. Auf einem Foto war das Fahrzeuginnenleben abgebildet. Etwas störte Anita an dem Bild. Auf dem hellen Beifahrersitz war ein kleiner schwarzer Fleck. Sie zoomte es näher. Es war ein Zweipunkt-Marienkäfer, schwarz.
Foto und Text: Petra Malbrich