Die Leiter

Mit einem feuchten Tuch befreite Lena die Leiter von dem Staub, der sich in den vergangenen Wochen darauf gemütlich machte. Von einer Arbeitskollegin hatte sie die Leiter bekommen, ein Geschenk, mit dem sie Lenas Erfolge auf der Karriereleiter sichtbar zeigen wollte. Das war an dem Tag, als Lena zur Leiterin Abteilung Einkauf ernannt werden sollte. Das es nicht dazu kam, lag an Lena, die noch vor der offiziellen Bekanntmachung ihre Kündigung eingereicht hatte. Lena wollte eine Auszeit. Sie fühlte sich genauso mit Staub bedeckt wie es die Leiter war. Nur war Lenas Staub nicht Synonym für unbenutzt, sondern für zu viele Aufgaben und Verantwortung, was nicht mehr zu ihrem Kompetenzbereich zählte. Mit anderem Worten: Lena fühlte sich benutzt und ausgenutzt und beschloss daher die Reißleine zu ziehen, bevor sie so ausgelaugt war, dass sie nur noch leb- und nutzlos in der Ecke stand wie die Leiter.

Warum sie diese nun entstaubte, wusste Lena nicht. Wohl weil sie aufräumen wollte, dem Leben wieder eine Struktur geben wollte.

Karriereleiter, dachte Lena. Jeder verband mit der Leiter ein „nach Oben gehen“, ein Vorwärtskommen. Musste man immer vorwärts und hieß vorwärts immer auch erfolgreich sein?

Es war eine einfache Leiter, dachte Lena. Fichtenholzäste zusammengenagelt wie gewachsen. Also krumm. Das passte doch nicht zu dem Erfolg, den Leitern suggerieren sollten. Eine Karriere war doch geradlinig. Mit vollem Einsatz im Beruf auf der Zielgerade nach oben. Aalglatte Karrieren. So wurde es vermittelt. Dabei waren die Menschen krumm, dachte Lena. Mit Ecken und Kanten, mit Vorlieben und auch seltsamen Wesenseigenheiten. Nicht jeder wollte Karriere. Lena wollte das nicht. Sie bemühte sich nur, alles richtig zu machen, wollte die anvertrauten Aufgaben erfüllen. Sie war zufrieden. Warum wurde das mit Karriere gleichgesetzt? Ganz automatisch schweiften Lenas Gedanken zu ihrer Freundin Brigitte. Sie war ein Karrieretyp, kletterte die Leiter ganz nach oben und fiel unsanft auf den Boden. Ehe kaputt, das Kind todtraurig, weil es zwischen Mama und Papa pendeln musste. Die gemeinsame Wohnung musste sie verlassen und weil ihr das alles zusetzte und Zeit kostete, patzte sie in der Arbeit. Der Fall passierte schnell. Die neue Position wurde Brigitte entzogen und neu besetzt.

Nun ging es ohne Karriere. Brigitte hätte nun Zeit, sich zu kümmern. Vor allem hätte sie Zeit für sich. Mit Zeit konnte Brigitte nichts mehr anfangen. Lena hatte das Beispiel immer vor Augen und deshalb vorher den Notausstieg gewählt.

Inzwischen hatte Lena die Leiter entstaubt und betrachtete das krumme Gebilde eine Zeit lang. Wieder huschten ihre Gedanken zu Brigitte. Sie saß in einem Scherbenhaufen. Sie könnte eine Leiter gebrauchen, als Krücke, um wieder aufzustehen. Um sich nicht noch tiefer nach unten ziehen zu lassen, sondern um wieder nach oben zu blicken. Lena lief zu ihrem Regal, in dem sie Karten, Aufkleber und anderen Kleinkram aufbewahrt hatte. „Gott hält dich. Er ist treu und hält sein Versprechen“, stand auf einer Karte, die Lena an die Leiter klebte. Ein paar Stoffherzchen hatte sie ebenfalls aufbewahrt und band diese um die krummen Stufen der Leiter. Eine Leiter ist nicht gleich Karriere. Eine Leiter bedeutet Aufstieg und das kann auch Weiterentwicklung sein. Das Wissen, dass Arbeit und Karriere nicht alles sind, sondern im Leben anderes zählt.

Foto und Text copyright Petra Malbrich

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