Der besondere Geburtstag

Selbst mit Stock war Edith wacklig auf den Beinen, als sie über den Hof zum großen Birnbaum lief. Dort blühten bereits tausend Köpfe der Ramblerrose, die sich um den Stamm herum an den alten beinahe noch kahlen Ästen empor rankten Sie liebte diese kleinen Blüten, die jedes Jahr an ihrem Geburtstag ihre ganze Pracht entfalteten. Mehr liebte Edith die Erinnerung dahinter. Jedes Jahr an ihrem Geburtstag hatte ihr Vater ihr einen Ramblerrosenstrauß auf den Geburtstagstisch gestellt. Vom Tag ihrer Geburt an. Das war vor 95 Jahren gewesen und Edith konnte sich daran natürlich nicht mehr erinnern. Erst an die Jahre ab ihrem fünften oder sechstem Geburtstag. Nie hatte ihr Vater den Strauß vergessen und als sie erwachsen und bereits verheiratet war, brachte er ihr noch immer ein paar Rosen. Er hatte sogar einen Blumenbogen um die Haustüre aufgebaut und dort neue, lilafarbig blühende Rosen eingepflanzt. Geschenke gab es weder vor, noch während und schon gar nicht nach dem Krieg. Aber die Rosen blühten pünktlich, als wäre es ihr Auftrag gewesen. Manchmal hatte auch eine Tafel Schokolade am Tisch gelegen. Das hatte Edith besonders gefreut.

Sie hatte inzwischen den Birnbaum erreicht, roch an der leicht duftenden Blüte und überlegte kurz, ob sie ein paar Rosenköpfe abpflückte, um sich diese große Freude zu bereiten. Ihren Kindern hatte sie die Geschichte natürlich erzählt. Aber ihre Kinder…., Edith schüttelte den Kopf, Tränen in den Augen. Natürlich würden sie heute alle bei ihr versammelt sein. Die politischen Vertreter der Gemeinde und des Landkreis hatten ihren Besuch angekündigt, weshalb sich ihre Kinder keine Blöße geben wollten.

Wolfgang, der eine große Karriere bei der Bank verzeichnen konnte, würde im Anzug kommen, sich ganz nonchalant geben, immer eine witzige Antwort parat und ein Kompliment auf den Lippen. Er hat es schon immer verstanden, sich als verständnisvollen Kümmerer ins rechte Licht zu rücken. Erika würde gestikulieren, als spiele sie die Hauptrolle in einem für den Oskar nominierten Film. Sie würde abgehetzt wirken und damit zum Ausdruck bringen, als wäre ihr für ihre Mutter kein Weg zu weit. Dabei wohnte sie gerade fünfzig Kilometer entfernt. Aber außer am Geburtstag und dem Tag vor Weihnachten, kannte ihr Navi den Weg hierher nicht. Jedes Mal wenn einer der Lokalhonoratioren zu ihr sah, würde sie liebevoll eine Hand auf Ediths Arm legen. Dabei bekam sie bei den normalen Geburtstagen nicht einmal die Hand, erinnerte sich Edith betrübt. Und Helga? Helga war schon immer die lebhafte ihrer drei Kinder. Sie war der Wirbelwind und würde ebenso lebhaft in die Stube fegen, wenn bereits alle am Kaffeetisch versammelt waren. So hatte sie die Aufmerksamkeit des Publikums. Dann würde sie in ihrer lebhaften Art erklären, warum sie zu spät war. Jeder würde schmunzeln und Helga würde dann, alle Augen auf sich gerichtet wissend, mit ausgebreiteten Armen auf sie zugehen, um ihr herzlich zu gratulieren. Die anderen beiden Kinder würden eine vielsagenden Blick tauschen, den Helga spöttisch, wenn auch heimlich erwidern würde. Während des Gesprächs würden ihr alle zuvorkommen und jeder der Dreien würde Ediths Lebenslauf, ihren Werdegang und ihre Vorlieben intensiv schildern. Nur sie selbst würde überrascht alle die ihr unbekannten Anekdoten lauschen, die ihre Kinder zum Besten gaben. Die Spannung zwischen den Geschwistern würde niemand außer Edith bemerken.

Was hatte sie falsch gemacht, grübelte Edith erneut, als sie die Rosenranke mit Blicken verfolgte. Nichts, würde ihr Karl sagen, wenn er noch leben würde. Es sei die Zeit, die alle änderte, würde er sie trösten. Aber es war nicht die Zeit allein, gestand sich Edith ein. Natürlich hatte sie auch ihren Teil dazu beigetragen, weil sie wollte, dass es ihre Kinder einfacher und leichter hatten. Deshalb hatte sie mit Geschenken aufgewartet, die sie sich mühsam und regelrecht vom Munde abgespart hatte. Natürlich wollte sie, dass sich ihre Kinder auf die Schularbeiten konzentrieren konnten und hatte sie nur wenig zur Haus- und Feldarbeit eingespannt. Und ja, natürlich wollte sie, dass ihre Kinder einen modernen, einen sicheren Beruf erlernten, damit sie im Leben Sicherheit erhielten und sich körperlich nicht verschleißen mussten.

Edith pflückte nun doch eine Rose ab, den Stiel so lang, dass er in die kleine Tischvase passte. Auch sie und Karl hatten sich der Zeit angepasst, musste sich Edith gestehen. Die großen Familienfeiern wurden verkleinert. Denn warum sollte aus jedem Geburtstag oder aus Weihnachten wegen einer Großfamilie ein Großereignis werden? Nur noch die eigene Familie war Gast. Diese Verkleinerung der Familienfeiern geschah schleichend. Mit jeder Reduzierung der Anzahl der Gäste schrumpfte auch die Bedeutung des Anlasses. Dem konnten die größer werdenden Geschenke nichts entgegenbringen. Und nun? Nun war nichts mehr von Bedeutung, alles nur noch eine Show, bei der jeder Beteiligte hoffte, das Stück gut über die Bühne zu bringen, um endlich wieder nach Hause zu können. Das Stück – ihr Geburtstag – würde natürlich auf großer Leinwand übertragen werden. Ein besonderes Lokal, damit auch jeder sieht, wie gut sich alle um sie kümmerten.

Edith hatte weitere Ramblerrosen abgepflückt, sodass es ein ansehnlicher Strauß war. Dann umfasste sie wieder ihren Stock. Warum war sie so streng und dachte so ungerecht über ihre Kinder? Waren sie und ihre Geschwister denn besser? Auch sie hatten Streit, auch ihre Eltern wollten, dass sie es besser hatten. Auch ihre Mutter hatte genörgelt, wenn ihr Vater das Geld für Schokolade ausgegeben hatte, anstatt Wolle für Socken zu kaufen. Es war nicht die Schuld ihrer Kinder, wenn sie sich entschieden eher gezwungen in einem Hotel zu feiern, wo jedermann sie sehen konnte und sich deshalb jeder von seiner besten Seite zeigen wollte. Edith blieb stehen, als sie Motorengeräusche hörte.

Ihre Kinder waren eingetroffen, festlich gekleidet, in unbequem eng geschnittenen Kleidern und Anzugsjacken gezwängt. Die Männer hielten Ediths Geschenke. Eins größer als das andere. Keine Blöße geben. Im Auto waren die Torten, ebenfalls eine ansehnlicher als die andere. Die sollten auf den langen Tisch, die Geburtstagstafel, sobald sie mit Edith bei dem „besonderen“ Lokal angekommen waren. Natürlich war es Helga, die das Entsetzen aller laut aussprach. „Bist du noch nicht fertig? Wir wollen deinen Geburtstag feiern!“ Edith ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, deutete Erika an, die kleine Blumenvase zu holen und auf den Gartentisch zu stellen. „Ihr Männer holt nun Bänke, die Frauen setzen den Kaffee auf und dann zieht ihr euch alle um. Wir feiern in Freizeitkleidung“, bestimmte Edith. Ihre Stimme klang als würde sie keinen Widerspruch dulden. Mit einer Handbewegung schnitt sie Erikas Einwand ab und Edith und schlurfte durch das Gras zu den Gartenmöbeln unter ihrem Birnbaum. Kurz darauf kamen alle wie von Edith angeordnet in Freizeitkleidung zum Geburtstagstisch. Die Kinder nörgelten nicht, sie spielten. Die Geschwister erinnerten sich an die gemeinsame Kindheit, zeigten Ediths Urenkeln, wie die Geburtstagsfeiern zu ihrer Zeit ausgesehen hatten. Sie lachten und als alle mit einem Glas Sekt auf Edith anstießen, legten ihre drei Kinder den Arm um sie. Es war als fielen mit dem Ablegen der Festkleidung auch alle Konventionen und jedes Konkurrenzdenken. „Es ist ein besonderer Geburtstag“, meinte Erika, mit natürlichem Lachen im Gesicht.

Foto und Text copyright Petra Malbrich

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert