Ausgedient

Ute rieb die klammen Finger aneinander. Obwohl in ihrem Imbissstand vom Grill ein bisschen Wärme abstrahlte, war die Bude zu dieser Jahreszeit kein angenehmer Arbeitsplatz. Eisig trockene Kälte wechselte mit feuchter ab. Dann schien wieder die Sonne und Ute schwitzte. Eigentlich sollte sie diesen Job überhaupt nicht mehr machen, meinte ihr Arzt nach Utes Schub schon vor einem Jahr.

Ihr Chef hatte auch noch eine Gastwirtschaft und dort zu arbeiten, wäre für Ute viel leichter gewesen. Aber dort hatte er eine junge Frau angestellt und er erklärte Ute immer wieder, wie wichtig sie doch für den Imbissstand sei. Sie kenne die Leute und treffe den richtigen Ton. Er habe doch niemanden außer Ute, meinte der Chef. So war Ute trotz ihrer Erkrankung an wichtigen Tagen immer wieder eingesprungen, damit der Imbissstand öffnen konnte. Es gab auch das ungeschriebene Gesetzt, dass nur derjenige, der auch im Imbissstand arbeitete, in der warmen Gastwirtschaft arbeiten durfte. Komischerweise galt das „Gesetzt“ nicht für jeden. Also biss sie in den sauren Apfel, denn eine Arbeit brauchte sie. Das wusste der Chef.

Zeitweise konnte sie in der Kälte ihre Finger überhaupt nicht mehr strecken, so dick geschwollen und schmerzhaft gekrümmt waren sie. Auch heute schmerzte jeder Knochen schmerzte und Ute befürchtete schon, sich bis Heiligabend auch noch eine schwere Erkältung einzufangen. „Was macht man nicht alles, wenn Not am Mann ist“, nörgelte Ute vor sich hin, während sie eine neue Serviettenpackung aufriss und auf die Theke neben die Geldablage legte. So konnten sich die Kunden an den Servietten selbst bedienen. Ute sah Birgit zum Imbissstand kommen. Sie war auch so eine gute Seele, dachte Ute. Wie sie selbst immer bereit, einzuspringen, auch wenn es Wochenenddienst bedeutete oder kaum einen Feierabend, wenn sie Stunden länger im Betrieb bleiben musste. Auch sie sollte wegen ihrer Bandscheiben und Sehnenschmerzen längst in eine andere Abteilung versetzt werden. Aber die Geschäftsleitung fand keinen adäquaten Ersatzmitarbeiter für die Arbeiten am Mikroskop, weshalb nach wie vor Birgit mit den Arbeiten betraut wurde, als wäre es selbstverständlich. Es ärgere sie selbst am meisten, dass sie nicht mehr so belastbar sei wie früher, erzählte Birgit vor einigen Wochen.

Heute lief Birgit viel langsamer als sonst, dachte Ute. „Wieder ein Leberkäsweckla?“, fragte Ute fröhlich und schnitt schon eine Scheibe von dem warmen Leberkäse ab. Doch Birgit schüttelte den Kopf. „Mir ist der Appetit vergangen“, sagte Birgit. Ute schaute die Frau in ihrem Alter eindringlich an. Hatte sie geweint? „Nun rede dir mal schön alles von der Seele“, forderte Ute die Frau auf. „Da gibt es nicht viel zu erzählen“, meinte Birgit. „Gib mir doch ein Leberkäsweckla“, sagt Birgit, bevor sie doch zu erzählen begann.

„Als ich heute Morgen zu meinem Arbeitsplatz lief, war dieser schon besetzt. Eine neue Kollegin sitzt dort und bearbeitet meine Aufträge“, sagte Birgit. „Ich ging zum Chef, doch der meinte nur, das sei doch das, was ich wolle. Ich könne das doch nicht mehr erledigen und der Betrieb müsse laufen“, erzählte Birgit. Sie schluckte. Die Tränen standen ihr schon wieder in den Augen. Die Stimme klang brüchig. „Wenn sie nur diese Aufgaben übernehmen würde, wäre das noch in Ordnung. Aber die neue Kollegin ist gesund. Sie darf natürlich auch andere Aufgaben übernehmen. Aufgaben, die ich selbst noch durchführen könnte. Doch da ist der Chef eisern. Ich solle das versehen. Er könne die neue Mitarbeiterin nicht nur mit den unschönen Arbeiten betrauen. Wer sich diesen weniger attraktiven Arbeiten annehme, der müsse auch ein Leckerli erhalten. Genau so hat er das gesagt“, sagte Birgit. „Und was ist mit mir, habe ich gefragt“, erzählte Birgit. „Dann sagte er doch ohne eine Mine zu verziehen, er könne mich noch für vier bis fünf Stunden in der Woche beschäftigen. So habe ich Zeit, mich auszukurieren“, sagte Birgit. „Wie ich nun mein Geld verdiene, ist ihm egal. Er sei nicht die Wohlfahrt. Er müsse einen Betrieb führen“, erzählte Birgit. „Jahrelang war ich recht. Ich bin immer wieder eingesprungen, habe bis zum Umfallen gearbeitet, habe meinen Urlaub gestrichen, wenn Arbeit anstand, bin auch samstags in die Arbeit, wenn schnelle Laborergebnisse gefordert waren. Hatte irgendjemand gefragt, wie es mir gehen, als ich krank war? Nein. Und was habe ich nun von meinem überzogenen Pflichtbewusstsein? Ich werde vor die Tür gesetzt, nun, wo Ersatz da ist.“ Birgit schwieg. Ute auch.

„Das ist ein starkes Stück. Das tut mir leid, Birgit.“ Ute schnaubte. So betrachtet, wäre es nur eine Frage der Zeit, bis ihr Ähnliches geschah. Auch sie war nicht unersetzbar. Würde sie morgen vor dem Imbisswagen stehen und eine andere Mitarbeiterin würde bedienen? In der Wirtschaft war ohnehin kein Platz für Ute. Dann würde es heißen: Es ist doch genau das, was Sie wollten. Wollte sie das? Nein. Sie wollte weiterhin vollwertig arbeiten, nur in einem anderen Bereich. Doch das wurde mit „nicht mehr tauglich“ gleichgesetzt. Das war so unfair, dachte Ute. In dem Moment kam ihr Chef, einen jungen Mann im Schlepptau.

„Liebe Ute, Ihre Rettung naht“, rief Herwig, Utes Chef. „Das ist Florian, er wird Sie ablösen. Es wäre schön, wenn Sie ihm in den nächsten Tagen das Wichtigste zeigen. In einer Woche dann wird er fit genug sein, Ihre Arbeit zu übernehmen“, sagte Herwig. Ute starrte ihn schweigend an. Er hatte kein Wort von einem anderen Arbeitsplatz für sie verloren.

Ute hing schweigend ihre Schürze an den Haken und verließ den Imbissstand. „Ute, was soll das? Kommen Sie sofort zurück“, rief Herwig. Doch Ute hakte sich bei Birgit unter und ging mit ihr quer über den Marktplatz zu den Einkaufspassagen. An der Fensterscheibe eines ehemals gut frequentierten Cafés hing ein Plakat „Zu verpachten“. Die beiden Frauen schauten sich an, nickten sich zu und traten ein. Der Eigentümer begrüßte die beiden. „Aus gesundheitlichen Gründen konnte der Pächter nicht mehr jeden Tag öffnen. Da war es für ihn schwierig, die Pacht zu bezahlen“, erklärte der Eigentümer. Birgit und Ute nickten. Sie unterschrieben den Vertrag, verhängten die Fensterscheiben und werkelten zwei Wochen lang in den Räumen.

In der Zeit sprach sich herum, dass es ein besonderes Lokal werden sollte. Ein ungewöhnliches Café, zu dem nicht jeder Zutritt hatte. Am Tag der Neueröffnung standen die Leute Schlange. „Abstellgleis“ stand auf dem Namenschild über der Ladentüre. Darunter: „Zutritt nur für ausrangierte Personen.“

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