„Kummit“

Fast alle Blumen auf dem Grab ihrer Tante waren bereits verwelkt. Alina hob diese Blumen aus der Erde und stellte die neuen Herbstblüher an deren Platz. „Kummit, kum mit“, hörte sie den Vogel rufen, was klang wie „Komme mit“. Alina erschrak. Die vielen Schauergeschichten um den „Kummit Vogel“, wie er im Dorf genannt wurde, kannte sie zur Genüge. Immer wenn der Vogel rief, kündete er demjenigen, der die Rufe hörte, den Tod an.

Auch ihre Tante erzählte vor wenigen Wochen, den Kummit Vogel im Garten gehört zu haben. Gesehen hatte sie den Todesvogel nicht. Das glaubte Alina gerne, handelte es sich bei dem Kummit Vogel doch um einen Waldkauz, der sicher nicht im Garten ihrer Tante war, um sie ins Jenseits zu holen. Alina lachte, als ihre Tante das erzählte. Als Aberglaube und Esoterik tat Alina das Gerede ab. Mit Vernunft und logischen Erklärungen versuchte sie ihrer Tante den Unsinn auszureden, konnte sie jedoch nicht umstimmen. „Er ruft Ki witt, das klingt nur so, weil wir fränkisch reden. Andere Bundesländer würden den Schrei nicht als Komm mit deuten“, beruhigte Alina. Erfolglos. Denn ihre Tante wusste, der Waldkauz galt bei vielen Kulturen als Todesvogel. Wer seine Rufe nicht als fränkisches „Kumm mit“ interpretierte, dann als hochdeutsches „Komm mit“. Immer häufiger redete ihre Tante von ihrem bevorstehenden Tod, auf den sie sich vorbereiten musste, weshalb sie letzte Dinge regeln wollte.

„Tante Erika, wenn diese schaurigen Geschichten stimmen würden, würden die Leute nur im Frühling und Herbst sterben. Denn meist wird der Vogel da vom Licht angezogen, auf der Suche nach Insekten. Ansonsten ist er im Wald. Es ist alles erklärbar und nur Zufall, dass er bei dir geschrien hat. Womöglich war er gar nicht in deinem Garten, sondern in dem drei Häuser weiter. Und du machst dich nun verrückt, unglücklich und krank“, versuchte Alina erneut, ihre eigentlich tief gläubige Tante von dem Aberglauben über den Todesüberbringer abzubringen. Doch ihre Tante war felsenfest davon überzeugt, der Kummit Vogel hatte sie gemeint.

Tatsächlich wurde Tante Erika immer blasser und dünner. Sie schlief schlecht, ihr Magen drückte so schmerzhaft, dass sie kaum mehr essen konnte. „Jetzt ist es bald soweit. Ich möchte, dass du dieses Familienerbstück gut bewahrst“, sagte Tante Erika und überreichte Alina einen Ring. Es war ein zierlicher Ring, in dem ein kleiner echter Rubin eingefasst war. Den hatte ihre Urgroßmutter schon getragen. Es war ein Geschenk von König Ludwig II, in dessen Diensten die Urgroßmutter stand. So wurde die Geschichte von Generation zu Generation überliefert, doch Alina glaubte auch das nicht. Es war ihrer Meinung nach Wunschdenken oder der Hang, seltsame Geschichten zu erfinden, wie die mit dem Kummit Vogel. Andererseits, woher sollte ihre Urgroßmutter derart kostbaren Schmuck besitzen. Jedenfalls wurde der Rubinring immer von Tochter auf Tochter oder Schwiegertochter weiter vererbt. Als Alinas Eltern ums Leben kamen, war Alina noch zu jung für das wertvolle Familienstück, weshalb es Tante Erika aufbewahrte. Bis kurz vor ihrem Tod. Alina nahm den Ring entgegen, versprach ihrer Tante, ihn wie einen Augapfel zu hüten und versuchte noch immer, sie vom Aberglauben abzubringen. Ihre Tante würde noch leben, war sich Alina sicher, als sie die frischen, dunkelrot leuchtenden Herbststauden auf das Grab pflanzte.

„Kummit, kummit.“ Dieser deutliche Ruf unterbrach Alinas Arbeit. Wie versteinert hielt Alina inne. Sie hatte den Ruf deutlich gehört. Meinte der Vogel sie? Alina schüttelte den Kopf. Hatte sie sich von dem abergläubischen Unsinn anstecken lassen? Sie schaute sich um. Auf dem Baum am Eingang des Friedhofs saß ein Vogel. Aber das war sicher kein Kauz, dachte Alina, den Vogel genauer inspizierend, so gut es auf diese Entfernung möglich war. Sie hatte sich das wohl eingebildet, dachte Alina und nahm eine der kleinen roten Scheinbeeren, die sie an die Stirnseite des Grabes pflanzte. „Kummit, kummit“, rief der Vogel erneut. Alina schaute auf. Er saß auf dem Grabstein, am Anfang der Reihe, in der ihre Tante die letzte Ruhe fand und er starrte Alina ins Gesicht. Sie erschrak. Er meinte sie. Gab es den Todesvogel doch?

Es war kein Kauz, soviel stand fest. Welcher war es dann? Alina kniff die Augen zusammen, um den Vogel besser identifizieren zu können? Von der Größe her könnte es ein Star sein, dachte Alina. Das würde passen. Er war doch der Stimmenimitator schlechthin. Alina pflanzte weiter. „Kummit, kummit“, rief der Vogel und kam nun gefährlich nah an Alina geflogen. „Geh weg“, rief Alina und stand auf.

Als hätte der Vogel den Befehl verstanden, flog er weiter und setzte sich drei Grabreihen weiter auf einen anderen Stein. Alina beschloss, den Vogel zu fotografieren und zog ihr Handy aus der Hosentasche. Alina tastet erneut in ihre Hosentasche. Wo war der Zettel, den sie zusammen mit dem Handy eingesteckt hatte? Auf dem Zettel hatte der nette junge Mann gestern seine Telefonnummer notiert mit der Bitte, Alina möge ihn anrufen, sollte sie ihn wieder treffen wollen. „So ein Mist“, fluchte Alina, stülpte die Jackentasche um, suchte noch einmal die Hosentasche ab und durchsuchte die Handymappe. Irgendwo musste sich der Zettel verklemmt haben. Oder hatte sie ihn zu Hause schon aus der Tasche und auf den Tisch gelegt? Alina konnte sich nicht mehr erinnern. „Kummit, kummit“, rief der Vogel, den sie immer noch nicht benennen konnte, erneut. Diesmal eindringlicher. Er flog zu Alina und wieder weg. Flog näher zu ihr, rief sein unheimliches „Kummit“ und flog davon. Alina fand das nicht mehr lustig. „Es ist nur Aberglaube“, sagte sie sich immer wieder. „Es gibt keinen Todesvogel. Das hier ist kein Kauz.“ Alina redete mit sich selbst als würde sie ein kleines Kind beruhigen. Was wollte der Vogel? Er kam erneut zu Alina. Nun reichte es ihr.

Sie stand auf und lief dem Vogel hinterher. War sie zu langsam, wartete er und stieß erneut seinen Befehl aus. „Kummit.“ Als Alina beim Friedhofstor angelangt war, setzte sich der Vogel auf den Ast, ganz oben in der Baumkrone und blieb still. Alina nahm ihr Handy, um den Vogel zu fotografieren, als ihr Blick auf einen Zettel am Boden fiel. Alina blickte zunächst zu dem seltsamen Vogel, dann zu dem Zettel und hob ihn auf. Es war ihr Zettel mit seiner Nummer, stellte Alina erstaunt fest. Wollte ihr der Vogel das sagen? Dass sie den Zettel mit der Nummer des netten Mannes hier verloren hatte? Konnten Vögel wirklich Nachrichten übermitteln? War es deshalb kein Kauz? Aber warum rief er ebenfalls „Kummit?“ Als Alina in die Baumkrone sah, war der Vogel verschwunden. Alina schüttelte verwundert den Kopf, ging wieder zum Grab ihrer Tante und pflanzte die letzte Blume ein. Aus weiter Ferne hörte sie einen Vogel rufen. „Tschip tschip.“ Oder rief er „Ki witt, Kummit?“

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